Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben. (Jakob Böhme)

Erleben




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Toleranz

Katharina hielt sich für einen vollkommen toleranten Menschen, doch was sie da sah, war einfach nur abstoßend asozial. Das war das, was ihr dazu einfiel.
Da saß er doch schon wieder in seinem Garten, in Unterhemd und flatteriger Turnhose, die sicher auch schon bessere Zeiten gesehen hatte und winkte freundlich, mit einem verschmitzten Grinsen in dem stoppeligen Gesicht herüber. Sie nickte verhalten zurück, wandte sich dann aber schnell wieder ab. Ihr perfekt geschminktes Gesicht wirkte kühl, fast angewidert. Wie konnte sich ein Mensch nur so gehen lassen und sich dabei auch noch in der Öffentlichkeit zeigen!
Sie wollte zurück ins Haus gehen, um ihren eleganten, hellgrauen Kaschmir - Blazer gegen eine leichte, aber natürlich pingelig gebügelte Bluse zu tauschen, blieb aber noch mal stehen, um das einzige leicht angewelkte Blatt ihres Oleanders zu entfernen. Ihr Blick fuhr ein zweites Mal prüfend über ihre große Terrasse. Kein Staubkörnchen lag darauf, keine Erdspuren und nicht ein vertrocknetes Blatt, einfach nichts, alles war perfekt.
Er passt einfach nicht hier hin, dachte sie angesäuert und warf einen verstohlenen Blick zum Nachbargarten.
Vor vier Wochen musste er in das gegenüber liegende, leer stehende Haus eingezogen sein. Der jungen Frau war schleierhaft, wie man in diesem Gebäude wohnen konnte. Es sah schäbig und heruntergekommen aus. Der Vorbesitzer war vor Jahren verstorben und sehr lange hatte es gedauert, bis Erben gefunden waren, die nun das Haus wohl verkauft hatten, ohne jemals Ordnung im Inneren und im Garten zu schaffen.
In diesen Wochen hatte sie ihn immer mal wieder sehen können, immer in dem gleichen Aufzug, nein, ab und zu trug er auch eine Jogginghose, schleppte Möbel und Hausrat in einen Container, werkelte hörbar bei weit geöffneten Türen und schauriger Schlagermusik, ja, er sang oder pfiff sogar mit.
Dann kamen lärmende Menschen mit Farbeimern und Pinseln, die auch in ähnlichen Jogging - Outfits von Zeit zu Zeit den heruntergekommenen Garten, in den er zwei Bänke und einen langen Brettertisch gestellt hatte, für Kaffee- oder Bierpausen nutzten. Genaues wusste sie natürlich nicht, denn sie flüchtete dann immer sofort in ihr Haus, um nur nicht auf die fröhlich über die Hecke fliegenden Rufe antworten zu müssen, konnte also nur anhand der Geräuschkulisse erahnen, was passierte. Wahrscheinlich war er nur ein einfacher Arbeiter und konnte sich nicht viel leisten, hatte aber diese sogenannten Kumpel, die für Bier und Mettbrot gerne ihre Freizeit mit ihm teilten, diesmal eben beim Streichen?
Sie mochte solche Menschen nicht, die irgendwann an einem Punkt stehen geblieben waren und es nicht für nötig hielten, weiterhin Leistung zu zeigen. Als Abteilungsleiterin einer Modefirma hatte sie oft solche Mitarbeiter unter sich und die blieben nicht lange im Unternehmen. Da war sie knallhart. Zeigte jemand nicht genug Leistung, war er für das Geschäft nicht kompatibel und konnte wieder seine Sachen packen.
Sie ging ins Haus und schritt elegant den langen Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer. Das gesamte Haus, ihr Anteil nach der Scheidung, hätte auch einer Wohnzeitschrift entspringen können. Nichts wirkte fehl am Platz, alles strahlte Sauberkeit und absolute Kühle aus.
Sie zog sich schnell um und wollte es sich gerade auf ihrer Couch im Wohnzimmer bequem machen, um noch ein paar Unterlagen aus der Firma durchzugehen, als sie plötzlich sah, dass das Lämpchen ihres Anrufbeantworters stetig blinkte. Wer konnte da versucht haben, sie zu erreichen? Zu Hause rief doch so gut wie nie einer bei ihr an. Freunde hatte sie nicht und der Kontakt zu ihren Eltern bestand kaum noch. Sie schämte sich für ihre Eltern, lebten sie doch sehr einfach und spartanisch in einem kleinen Ort und machten sich nichts aus modischen Dingen, Kultur und Ansehen. Fast bäuerlich hätte man deren Leben bezeichnen können, denn sie verbrachten die meisten Stunden des Tages in ihrem Garten.
Ihr selbst war schon früh klar gewesen, dass sie so wie ihre Eltern niemals leben wollte. Sie strebte nach Erfolg, Anerkennung und wollte sich einen Namen in der Geschäftswelt machen, nutzte dabei aber gerne die Ersparnisse der Eltern, die diese ihr für Fortbildungen zur Verfügung stellten.
Sie ging zum Anrufbeantworter und drückte auf die Taste, die das Band abspulte. “Guten Tag Frau Klingenfeld, mein Name ist Konrad Rademann. Sie haben sich vor einiger Zeit in unserem Haus als Marketing Managerin beworben und wir möchten sie gerne zu einem Vorstellungsgespräch morgen um 10 Uhr einladen. Wenn sie diesen Termin nicht wahrnehmen können oder möchten, melden sie sich bitte noch heute unter der Nummer….”
Katharina konnte es kaum glauben! Sie hatte es tatsächlich geschafft! Fast geschafft. Die größte Modefirma der Region lud sie zum Vorstellungsgespräch ein! Bald war sie da, wo sie immer hin wollte. Natürlich würde sie der Einladung folgen, da gab es gar keine Zweifel.
Ein triumphierendes Lächeln, das aber wenig Freude ausdrückte, lag auf ihrem Gesicht, als sie nochmals zu ihrem Kleiderschrank ging und überlegte, welches ihrer edlen Kostüme am ehesten dem Zweck entsprach.
Bereits um 9.45 Uhr des nächsten Tages saß sie in der Besucherecke ihres Wunscharbeitgebers und wartete nervös darauf, dass dieser sie endlich hereinbitten würde und sie ihren Arbeitsvertrag unterschreiben konnte. Sie zweifelte keineswegs daran, dass sie die Stelle antreten würde. In ihren Augen war sie sehr gut, perfekt, einfach die Beste. Seit Jahren arbeitete sie auf diesen Moment hin, hatte ihr Privatleben vollkommen vergessen und sich mit den bedeutendsten Geschäftsleuten der Modewelt in der Umgebung getroffen, um Beziehungen zu pflegen, die ihr eines Tages nützlich sein könnten.
Die Tür des Besprechungsraumes ging auf und die zauberte schon mal ein gewinnendes Lächeln auf ihren Lippen. Sie sah, dass zwei Herren aus dem Zimmer traten und eine dritte Person, eine Frau, verabschiedeten. Wahrscheinlich eine Mitbewerberin, schoss es ihr durch den Kopf und ein ärgerliches Gefühl trat in ihr auf, schließlich gehörte ihr der Job.
Als die beiden Männer die Frau endlich zum Ausgang geführt hatten, kamen sie auf die sich nun von ihrem Platz Erhebende zu.
“Hallo Frau Klingenfeld, ich bin Herr Rademann, der Geschäftsführer!” Ein gut aussehender Mann im schicken Anzug hielt ihr zur Begrüßung die Hand hin, zwinkerte leicht  und lächelte verschmitzt. Doch sie brachte keinen Ton heraus. Blässe zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf Stirn und Oberlippe; sie fühlte sich wie gelähmt.
Vor ihr stand der neue Nachbar.



FvB 1995








Der Keller – Troll

Karin saß, vertieft in ein neues Konzept,  im Büro, als das Handy die bekannte Melodie, die Rob, ihr 17 jähriger, als geistig leicht behindert eingestufter  Sohn - autistisch- als seine Erkennungsmelodie ausgesucht hatte.
Erstaunt griff sie danach, denn es kam sehr selten vor, dass er sie anrief. Er war sich selbst genug, wenn er am Computer sitzen konnte, um seine Schreibübungen zu machen oder er malte , bastelte.
Helga, ihre Nachbarin im Doppelhaus sah nach ihm, wenn Karin ab und zu in das Stadtbüro musste, um nach dem Rechten zu sehen, um Dinge zu erledigen, die sie vom heimischen Büro aus nicht erledigen konnte.
„Robby?“  
Stoßweise kam der Atem des Sohnes:“Du musst sofort kommen, Mama, sofort, ich habe einen Troll gefangen!“
„Du hast was?“
„Na einen Troll hab ich gefangen, ich habe ihn gefesselt und in den Keller gesperrt. Mach schnell, wir müssen etwas unternehmen.“
„Robby!“ Automatisch übernahm sie den Kosenamen aus den Kindertagen, den er aber nicht mehr mochte. „Ich bin ja bald da. Dann schau ich mal, was der Troll macht.“
Sie lächelte über die Phantasie ihres Sohnes, der auch heute noch die Geschichten von Feen, Zwergen, Einhörnern und Trollen, wie die meisten Märchen liebte.
„Aber beeil dich Mama, nicht dass er sich befreit!“
„Ja sicher beeile ich mich mein Schatz, geh inzwischen zu Helga und da komme ich dann hin.“
Sie musste wieder lachen, beugte sich aber schon wieder über die Bauzeichnungen.
Das Telefon klingelte nach 10 Minuten wieder.
Seufzend meldete sie sich: „Robbyschatz, du solltest doch zu Helga gehen.“
„Karin, hier ist Helga, du musst sofort kommen, Rob hat einen Troll gefangen und in den Keller gesperrt.“
„Helga, was macht ihr denn für einen Quatsch, du kennst doch seine Phantasiegeschichten.“
„Karin,“ nun flüsterte die Freundin, „ich habe ihn durch das Kellerfenster gesehen.“
„Was erzählst du denn, das Kellerfenster hat eine Milchglasscheibe.“
„Ja, aber Rob hat das Licht angelassen und ich kann da ein kleines Wesen erkennen, das hin und her hopst und an der Kellertür habe ich gelauscht und da hört man immer eine pipsende Stimme, die Hilfe ruft.“
„Ich komme!“
Nun ging ihr Puls aber doch recht heftig. Was sollte sie bloß machen? Hilfe mitnehmen, Polizei rufen?
Ach was, sie schüttelte aufkeimende Bedenken ab.
Zum Glück war es nicht weit zu fahren, die 10 Kilometer jagte sie wie nie zuvor und atmete auf, als sie zu Hause ohne Blitzen und ohne Knöllchen ankam.
An der Haustür standen die beiden, Helga mit viel Besorgnis im Gesicht und Rob, von einem Bein auf das andere tretend:“Ich habe einen Troll gefangen, ich habe einen Troll gefangen,“ sang er vor sich hin, glücklich strahlend.
„So, ihr zwei Träumer, nun zeigt mir mal euren Troll.“
Sie ging zur Kellertür, die Rob zugeschlossen hatte, öffnete die Tür und schon hörte auch sie die helle Stimme aus dem hintersten Keller. Vor den Beiden ging sie sehr mutig, aber doch mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend auf den Keller zu, riss die Tür auf und erstarrte.
Dieses Bild des kleinwüchsigen Mannes  im Harlekinkostüm,  mit den angstvoll aufgerissenen Augen, der ihr da, von den  Händen bis zu den  Füßen gefesselt, entgegen hüpfte,  würde sie wohl nie wieder vergessen.
Sehr schnell befreite sie den kleinen Mann von dem recht festangezogenen Seil, eine alte Wäscheleine, ohne seine aufgeregten hastig sprudelnden Sätze verstehen zu können.
„Bitte entschuldigen Sie vielmals,“ konnte sie immer nur sagen und war froh, als er sich nach einer Tasse Kaffee soweit beruhigt hatte, dass er berichten konnte, was passiert war.
„Ich gehöre zu einem Wanderzirkus und wir sind von Tür zu Tür unterwegs, um für den Winter ein paar Spenden für unsere Tiere zu sammeln.“ 
Sehr hell war seine Stimme und er war, wie er erzählte, hier an die Haustür gekommen, die nach dem Klingeln von dem jungen Mann geöffnet wurde. Dieser hätte gefragt:“Bist du ein Troll?“ Er habe das für einen Scherz gehalten und lachend genickt,  einen kleinen Sprung mit Kratzfuß und Verbeugung gemacht und schon wäre er gepackt worden, wobei er sich gegen diesen Hünen, von über 1m 80 nicht wehren konnte, da er selbst nur 1m 48 groß und ein Federgewicht  war. Er fühlte nur noch, wie er die Treppe runtergetragen,  diese Wäscheleine um ihn gewickelt  und er auf diese Liege im Keller gelegt wurde. Er hätte zwar gerufen und gezappelt, aber war chancenlos gegen Rob, der auch jetzt noch so glücklich immer wieder erzählte, dass er einen Troll gefangenhätte.
Karin versuchte nun, diesem Mann zu erklären, das ihr Sohn etwas behindert sei, was Jochen, so stellte sich der Zirkusmann vor, sofort verstand.
Er stellte sich vor Rob und reichte ihm die Hand.
„Wollen wir Freunde sein, denn wir sind beide ein wenig anders als die Anderen?“
„Oh ja, ich hatte noch nie einen Troll als Freund,“ freute dieser sich und beugte sich nun vorsichtig zu dem so viel Kleineren hinunter und nahm vorsichtig seine Hand. 

2006


Nach einer wahren Geschichte



Ende der 80er Jahre besuchte ich trotz karger Freizeit 
die "Schule für Schreiber"
weil ich mehr über Schreiben 
-über das Schulwissen hinaus-
erfahren und lernen wollte.
Drabble war ein ganz neues Thema, das aus England
herüberschwappte, das uns sehr viel Freude bereitete.



Drabbles



Ach Schwiegermutter

Die Zähne fest zusammengebissen schleifte er kraftvoll das unförmige Bündel hinter sich her.
Keinen Fehler machen, Zeit im Auge behalten.
Kofferraum auf,  der schwerste Part.
„Ich hätte sie anders verpacken sollen.“ Die Unhandlichkeit erschwerte sein Bemühen.
Endlich war der Kofferraum geschlossen. Noch einmal ins Haus. Sein Blick schweifte rundum. Nichts übersehen? Doch - er bückte sich nach dem silbernen Schmuck. Schnell auch noch einstecken.
Raus, das Auto gestartet, noch einmal der Blick zur Uhr.
„Es klappt! Ach Schwiegermutter!“ Jubel in ihm. Das Tor der Deponie war noch offen.
Schwupp! Weg war sie, die hässliche, künstliche Tanne der Schwiegermutter.

1988




 
Adieu, alte Liebe

Ich weiß nicht mehr, wie lange unsere Lebensgemeinschaft schon besteht. Lass mich überlegen. Kann es tatsächlich schon so lange her sein, dass ich fast in Dich reinlief? Ich zögerte nicht lange, sondern griff gleich zu.
Du zogst schon nach wenigen Tagen völlig komplikationsfrei bei mir ein. Weißt Du eigentlich, dass wir in den ganzen 14 Jahren nicht einmal gestritten haben?
Es war ein gleichmäßiges Miteinander.  Doch jetzt hast du mich verlassen, einfach so.  Mit einem Knall war unsere Beziehung beendet.
Ich sehe dir nach, wie du in dem Auto verschwindest.
Meine gute, alte Waschmaschine - auf dem Weg zur Müllkippe.

1989

 


Befreiung

„Ich hasse dich, hasse, hasse, hasse dich!“
Ihre Stimme überschlug sich fast und aus den fast geschlossenen Augen sprühten Blitze.
Wie oft hatte sie schon unter seiner harten Stimme gezuckt, gebebt, sich verkrochen, doch unbarmherzig zog er sie immer wieder hervor, ließ nicht nach, sie zu tyrannisieren. Er befahl, sie hatte zu gehorchen.
Genauso oft hatte sie versucht, sich zu widersetzen, sie sträubte sich, versuchte, ihn zu überhören, zu ignorieren, doch vergeblich.
Doch nun war es genug. Sie wollte endlich Ruhe haben. Schluss ! Aus!
Voller unbändiger Wut hob sie ihre Faust:
 und der Wecker flog krachend von dem Nachtschrank


1988




Nächtliche Aktion

Auf Zehenspitzen gehend, den Atem fast angehalten, schlich sie durch das dunkle Haus. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Ihre suchende Hand hatte nun gefunden, was ihr schon so lange ins Auge gestochen hatte, immer wenn sie es sah. Dafür wagte sie jetzt wirklich viel. Schnell zugegriffen.
Ihr Rückzug war geistesgleich, führte sie durch die Hintertür, drei Straßen weiter. Ein Behältnis geöffnet, das Bündel dort deponiert und auf kleinen Umwegen nach Hause, den Jogginganzug in die Wäschekammer, ins Schlafzimmer und schon  glitt sie ins Bett.
Sie atmete lächelnd tief durch >Endlich geschafft<.
 Das verhasste Jackett ihres Mannes lag im Kleidercontainer.


 1989




Sprungbrett

Er befand sich nun schon eine lange Zeit auf dem Sprungbrett des Fünfmeterturms. 
Er atmete ein wenig pumpend,  lief hin und her, verharrte wieder, 
ging bis zu dem Rand, verharrte, schüttelte sich ein wenig.
Die Sonne stieg höher. Gespannt hingen die Blicke der Wartenden an dem Brett. 
Die ersten Rufe wurden laut:
„Was ist los? Warum geht es denn nicht weiter?“ 
Die an der hochführenden Leiter Stehenden zuckten mit den Schultern
Doch dann - die Badegäste hielten die Luft an – 
stieß er sich von dem Brett ab, erhob sich in weitem Bogen
und alle bestaunten den Flug des wundervollen Schmetterlings.

1989