Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben. (Jakob Böhme)

Bitte wach auf



Gleichmäßiges Ein und Aus…tschitt…pfuh…tschitt…pfuh…tschitt…pfuh
Der Brustkorb hebt und senkt sich im Rhythmus der ihn bestimmenden Maschine. Ganz ruhig liegen die dichten Wimpern auf den leicht geröteten
Immer wieder sucht seine Hand die ihre. Sein hoffender Blickt verweilt auf ihren Augen, ihrem Mund. Keine Regung, schon so lange nicht.
„Bitte wach auf, wir warten auf dich, du fehlst uns so sehr.“
Tschitt…pfuh…tschitt…pfuh…tschitt…pfuh…unermüdliches Wirken dieser Maschine durchbricht die Stille nicht mehr, sie ist ein Teil des Raumes, des reglos liegenden Menschen geworden.
Seine Blicke folgen der Zackenkurve auf dem kleinen Monitor. Wie fremd ihm das alles ist und doch mittlerweile wie ein Freund, der einzig und allein ihm zeigen will, dass er niemals die Hoffnung aufgeben soll. Es bewegt sich ja noch etwas.
Die Schwester eilt durch den Raum und bringt einen Hauch Zigarettengeruch aus ihrer kurzen Pause mit.
Sie überprüft alle Geräte, macht sich Notizen, legt einen Tropf an…Ihm wird kalt. Sein Mund ist wie verklebt. Kein Wort kommt über seine Lippen. Wie oft hat er auf einen aufmunternden Blick, ein fröhliches „ nun wird alles gut!“ gewartet. Aber in den letzten drei Monaten werden die Blicke, die Gesten immer seltener. Ja sicher, was sollten sie auch schon Großartiges sagen? Für sie ist das eine Akte, ein Karteiblatt, ein Tropf, eine Magensonde, ein Beatmungsgerät.....
Nur seine leisen Gespräche mit diesem geliebten Menschen bleiben ihm. Die Freunde, wo waren sie? „Nein, nun werde ich ungerecht, sie sind immer da, wenn ich sie rufe, sie schauen nach ihr, wenn ich zur Arbeit fahre, sie rufen an und versuchen, mich dem Alltag hier zu entreißen, aber ich lasse es nicht zu, ich will so oft wie möglich bei dir sein, dir zusehen, wenn du erwachst.“
Sein Blick geht nach draußen. Die Sonne scheint in das Fenster und sein Frösteln von eben ist vergessen. Sacht legt er ihre Hand auf die Bettdecke und steht auf.
„Schau Liebes, ich öffne nun für dich das Fenster. Wie sehr hast du immer den Frühling mit all den Gerüchen und Stimmen geliebt.“
Er schaut nach draußen. Hier im Erdgeschoss geht der Blick durch den Park. Ein geschäftiges Treiben und muntere Gesänge in den Bäumen und Büschen zeigen an, dass die Paarsuche beginnt.
Er geht zurück zum Bett, setzt sich müde auf den harten Stuhl und nimmt die kühle Hand wieder wärmend in seine.
Da, aus dem ganzen Stimmengewirr heraus hebt sich eine Stimme, gewaltig, mächtig, jubilierend…der winzige und doch so stimmgewaltige Zaunkönig, direkt vor dem Fenster in dem Busch muss er sitzen.
Unermüdlich schmettert er seine Partitur, sein Werben, sein Frohlocken…
Da, er meint ein Zucken in seiner Hand zu spüren, sein Blick umfasst die Frau vor ihm, ihm stockt der Atem… „Du bist wach, ich fühle es, mach die Augen auf, Liebling, ich bitte dich“
Und dann, ein winziges Flattern der Wimpern, ein kaum wahrnehmbares Verändern der Lippen…mühsam, als wolle sie lächeln. Fast fragend neigt sich nun der Kopf, als lausche sie dem herrlichen, erweckenden Gesang…

1998