Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben. (Jakob Böhme)

Piefel





Auf dem alten Schreibtisch liegen kleine Schachteln, einige Bücher.
Das Holz fühlt sich warm an, genau wie Schrank und Sessel, die mir seit meiner Kindheit so sehr vertraut sind, stammt dieses schöne Gründerzeitteil aus dem Haushalt meiner Großeltern, wurde von meiner Patentante übernommen.
Ich halte diesen kleinen Ring in der Hand und weine.
Was bedeutet er alles, wer trug ihn, warum macht er mich so wehmütig?
Elisabeth, meine  Großmutter bekam ihn von ihrem Paul zur Verlobung.
Zwei kleine Schlangen umwinden sich und beiden tragen einen Opal als Auge im Kopf.
Tante Ira trug ihn nach dem Tod ihrer Mutter.
Er ist klein, doch passt er an meine linke Hand.
Da liegt das Buch, das mich in meiner Kindheit und Jugend faszinierte, wurden doch hier die Geschehnisse des Haushaltes schon von meinen Urgroßeltern festgehalten. Geburten, Taufen, Todesfälle, Vertreibung, Verlust des Hofes. Viel erfahre ich immer wieder neu aus dieser Familienchronik.
Tief beeindruckte mich immer der Satz „- 1920 – Gott helfe uns, die rote Armee dringt bis an die Wechsel vor“  und so verlassen viele deutsche Familien ihre Heimat an dem großen Fluss und die Umgebung um Marienburg.
Mit vier Kindern schlagen  sich meine Großeltern durch und erreichen durch Verwandtschaft gestützt eine kleine Stadt im Sauerland, Berleburg, neue Heimat für die Kinder, ein Haus wird gekauft, doch viel Freude hat der Großvater nicht daran, er bricht 2 Jahre später tot zusammen.
Auch die Großmutter lerne ich nicht kennen, sie stirbt 1946, voller Hoffnung die Heimkehr ihrer Söhne aus dem Krieg erwartend, doch diese erfüllt sich nicht.
Jetzt löse ich den Hausstand meiner Tante auf, natürlich kann ich mich von den meisten Dingen nicht trennen, waren und bleiben sie doch immer ein Bestand meines Lebens.

Es geht nicht mehr. Tante Ira  kann sich nicht mehr selbst versorgen und sie soll in ein Heim. Das kann ich nicht zulassen. Sie gab mir Kindheit.
Bei ihr fühlte ich mich immer sicher und geborgen. Also steht  mein Entschluss fest, sie kommt zu mir, zu uns. Der Familienrat hat es beschlossen.
Da liegt sie, klein, abgemagert, jenseits der Wirklichkeit, unserer Wirklichkeit. Sie ist wieder Kind, ruft nach Mama, weint, möchte nicht mehr eingesperrt sein.
Pein überflutet mich, das hat sie nie erzählt.Wann und wo wurde sie eingesperrt? Hat es mit ihrem Engagement während des 2. Weltkriegs zu tun?

Ich wusste aus ihren Erzählungen lediglich, wenn wir in ihrer kleinen Einzimmerwohnung gemütlich zusammen saßen oder im Bett uns noch etwas erzählten, dass mein Großvater , als Schulleiter und Musiklehrer sehr streng war, dass Oma unendlich gütig war, doch sehr auf die ihr anerzogene Etikette und Bildung achtete, diese weiter zu geben, das war man seiner Herkunft schuldig.

Ich halte ihre Hände, singe für sie, erzähle von früher, von unseren gemeinsamen Zeiten, streichle ihr schmal gewordenes Gesicht; meine Kinder spielen für sie, die Bettlägerige, mit den Kasperlepuppen und Kuscheltieren selbsterdachte Stücke.
Dann der stille Sonntag, an dem sie einfach einschläft.
Mein Mann ist mit den Kindern unterwegs, so kann ich mich ganz einfach hinsetzen, ihre Hände halten und Abschied nehmen, Abschied, der so sehr schmerzt, Abschied damit auch von unseren gemeinsamen Erinnerungen, von so vielen Jahren, Kindheit, Vertrautheit, Liebe.

Nun schaue ich auf den Schrank, sitze an dem Schreibtisch, manchmal auf dem alten Sessel und ganz leise höre ich ihre liebe Stimme, „Piefel“ ein Ausdruck, von dem keiner weiß, was er bedeutet, aber immer ihr Ausdruck ist für Erstaunen, Verwunderung, Glück gewesen ist

1985