„Beautiful“
Ganz still, in sich gekehrt, saß Erika inmitten dem auf-und
abschwellenden Gelächter, Geschnatter, Flüstern der sie Umgebenden vor ihrem
Teller.
Bedrohlich schwieg dieser sie an, richtete die Erbsenaugen
auf sie, ein Möhrenfinger drohte ihr und im Spiegel des Tellerrandes sah sie
sich selbst, fett, aufgedunsen, monströs und wusste sofort, sie würde wieder
nicht essen können, sie würde wieder sich anhören müssen: „Du bist nicht dick,
du wirst sterben, wenn du nicht isst.“ Was wussten die denn schon?
Marion, die ihr immer wieder gehässig ein „fette Kuh“
zuflüsterte und dann grausam schrill lachte, in das ohrenbetäubend ihre
Busenfreundinnen einfielen, diese Marion machte ihr das Leben zur Hölle, war
sie doch gertenschlank und wunderschön.
Erika bewegte die Hand auf die Gabel zu, weil ihr die
besorgten Blicke der Therapeuten, die überall immer auftauchten, dieses
suggerierten. Schwer war die Gabel, aus Blei sicherlich. Was die sich doch für
Schikanen ausdachten, um ihr das Leben zur Hölle zu machen. Ein winziges
Stückchen Kartoffel lag nun in Sichweite, nun direkt vor ihrem Mund … ein
Schauer durchfuhr sie, sie bekam keine Luft, sie würde an dem Stückchen sicher
ersticken. Ein Hustenanfall schlug ihr die so mühsam hochgehobene Gabel aus der
Hand oder war es Marion, die eben in diesem Moment dicht an ihr vorbei gegangen
war? Egal, sie wollte auch gar nicht essen, was ihr da auf dem Teller so
bräunlich entgegenwaberte, auch wenn es hundert Mal hieß, dass Fleisch ihr neue
Kräfte geben würde. Sie war doch stark, sie konnte sich doch dem Essen
verweigern, sie würde stand halten, denn sie wollte nicht fett sein.
Da war sie schon, Anke, die Psychologiestudentin, die immer
wieder mit Erika redete, über Ängste,
über Familie, die sie ab und zu in den Arm nahm, was ihr eklig war, denn
Berührungen waren immer eklig und schmerzhaft, ein ganz winziges Erinnern
flammte immer mal wieder auf.
Ankes Blick ruhte voller Sorge auf dem zusammen gefallenen,
nun in schmerzhaftem Husten sich krümmenden Körper dieses jungen Mädchens,
deren Knochen spitz unter mehreren Schichten der Bekleidung hervorstachen, deren leerer Blick aus den in
tiefen Höhlen liegenden schwarz umschatteten Augen keine realen Bilder mehr von
sich selbst projizieren konnten.
Sie nickte ihrem Kollegen Frank zu, der gleich hinzu eilte,
um mit dem kleinen „Püster“ dem jungen Mädchen wenigstens den Hustenanfall zu
stoppen und ihr zum Atmen zu verhelfen, als Erika auch schon bewusstlos wurde.
Ein Anruf… der Krankenwagen …
„BMI 30, höchste Zeit für eine künstliche Ernährung!“
Und Erika lag auf ihrem Bett, die Augen ins Nirgendwo
gerichtet, lächelnd, doch das Lächeln war leer, abgebrochen, nicht wieder
aufnehmbar…
…und aus dem Kopfhörer
klang leise Beautiful von Christina Aquilera.