Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben. (Jakob Böhme)

"Beautiful"



„Beautiful“
Ganz still, in sich gekehrt, saß Erika inmitten dem auf-und abschwellenden Gelächter, Geschnatter, Flüstern der sie Umgebenden vor ihrem Teller.
Bedrohlich schwieg dieser sie an, richtete die Erbsenaugen auf sie, ein Möhrenfinger drohte ihr und im Spiegel des Tellerrandes sah sie sich selbst, fett, aufgedunsen, monströs und wusste sofort, sie würde wieder nicht essen können, sie würde wieder sich anhören müssen: „Du bist nicht dick, du wirst sterben, wenn du nicht isst.“ Was wussten die denn schon?
Marion, die ihr immer wieder gehässig ein „fette Kuh“ zuflüsterte und dann grausam schrill lachte, in das ohrenbetäubend ihre Busenfreundinnen einfielen, diese Marion machte ihr das Leben zur Hölle, war sie doch gertenschlank und wunderschön.
Erika bewegte die Hand auf die Gabel zu, weil ihr die besorgten Blicke der Therapeuten, die überall immer auftauchten, dieses suggerierten. Schwer war die Gabel, aus Blei sicherlich. Was die sich doch für Schikanen ausdachten, um ihr das Leben zur Hölle zu machen. Ein winziges Stückchen Kartoffel lag nun in Sichweite, nun direkt vor ihrem Mund … ein Schauer durchfuhr sie, sie bekam keine Luft, sie würde an dem Stückchen sicher ersticken. Ein Hustenanfall schlug ihr die so mühsam hochgehobene Gabel aus der Hand oder war es Marion, die eben in diesem Moment dicht an ihr vorbei gegangen war? Egal, sie wollte auch gar nicht essen, was ihr da auf dem Teller so bräunlich entgegenwaberte, auch wenn es hundert Mal hieß, dass Fleisch ihr neue Kräfte geben würde. Sie war doch stark, sie konnte sich doch dem Essen verweigern, sie würde stand halten, denn sie wollte nicht fett sein.
Da war sie schon, Anke, die Psychologiestudentin, die immer wieder mit  Erika redete, über Ängste, über Familie, die sie ab und zu in den Arm nahm, was ihr eklig war, denn Berührungen waren immer eklig und schmerzhaft, ein ganz winziges Erinnern flammte immer mal wieder auf.
Ankes Blick ruhte voller Sorge auf dem zusammen gefallenen, nun in schmerzhaftem Husten sich krümmenden Körper dieses jungen Mädchens, deren Knochen spitz unter mehreren Schichten der Bekleidung  hervorstachen, deren leerer Blick aus den in tiefen Höhlen liegenden schwarz umschatteten Augen keine realen Bilder mehr von sich selbst projizieren konnten.
Sie nickte ihrem Kollegen Frank zu, der gleich hinzu eilte, um mit dem kleinen „Püster“ dem jungen Mädchen wenigstens den Hustenanfall zu stoppen und ihr zum Atmen zu verhelfen, als Erika auch schon bewusstlos wurde.
Ein Anruf… der Krankenwagen …
„BMI 30, höchste Zeit für eine künstliche Ernährung!“
Und Erika lag auf ihrem Bett, die Augen ins Nirgendwo gerichtet, lächelnd, doch das Lächeln war leer, abgebrochen, nicht wieder aufnehmbar…
…und aus dem Kopfhörer  klang leise Beautiful von Christina Aquilera.