Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben. (Jakob Böhme)

Es war nur ein Jahr





Susi wirbelte ins kleine Zimmer der Freundin.
„Mensch Hanna, du liegst ja schon wieder auf dem Bett. Was ist los? Wollten wir nicht raus?“
„Heute kann ich nicht, habe rundum Dienst und bin jetzt schon erledigt.“
 „Susi, lass uns am Wochenende zum Tanzen nach Singen fahren, dort ist viel mehr los“.
„Aber sicher, ich habe am Sonnabend ab fünfzehn Uhr Feierabend und Sonntag frei. Hanna, ich hole dich ab.“
So fuhr sie mit der unternehmungslustigen Hanna in die größere Stadt, die mit dem Zug gut zu erreichen war. Ziel­sicher marschierten sie durch die belebten Straßen. Susi, für das Jahr 1968 schon sehr aufreizend gekleidet, in einem superkurzen grün-beige gemusterten Strickkleid, passender grüner Strickstrumpfhose und ei­nem farblich wieder genau abgestimmten Blazer, alles Kleidung aus der letzten Kollektion, für die sie Werbefotos gemacht hatte und die die Mädchen dann billiger kaufen konnten, sowie farblich abgestimmte halbhohe Pumps zeigten eine modemutige, junge Frau, die ihre hellen Haare jetzt nur noch schulter­lang und ganz glatt geföhnt trug, mit einem leichten Schwung der unteren Haarspitzen nach außen. Die dunklen Wimpern hatten noch Nachhilfe durch etwas Wimperntu­sche bekommen und der Mund wurde durch einen rose far­benen Lippenstift betont, der die gebräunte Haut noch samtiger erscheinen ließ.
Hanna dagegen trug eine Hose und eine Bluse, etwas grob­schlächtig wirkend durch ihre Fülle, aber ihre dunklen Au­gen, umrandet von schwarzen langen Wimpern leuchteten und gaben dem Gesicht Leben.
Lange Tische, kleine verträumte Ecken, eine riesige Tanz­fläche, wo jetzt schon so viele Paare tanzten…schimmernde Kugeln, die ihr farbig wechselndes Licht durch den Raum zucken ließen und dann ein Discjockey, etwas ganz Neues
Susi und Hanna steuerten auf den nächsten Tisch zu, der noch freie Plätze anzeigte. Vier junge Männer und zwei Mädchen saßen dort schon und lachten und sangen mit- Down town …
 „Moin, ihr beiden, wo kommt ihr denn her?“ Susi hob er­staunt den Kopf. So sehr hatte sie sich an die Dialekte im Schwarzwald, in der Schweiz und nun am Bodensee ge­wöhnt, dass ihr der absolut hochdeutsche Satz völlig fremd erschien.
„Na, du kommst aber ganz aus dem Norden“, konterte sie gleich und betrachtete das sehr männliche, kantige Gesicht ihres Gegenübers. Groß war er schon im Sitzen, mittel­blonde kurze Haare und Augen, die leuchteten, als er sie ansah. „Komm, Lütte, lass uns tanzen“, und schon sprang er auf, drängte an den Freunden vorbei und griff nach Susis Hand.
„Phantastisch, jemanden heute zu treffen, der auch noch richtig sprechen kann. Wir brauchen sonst immer einen Dolmet­scher, wenn wir hier Mädchen kennen lernen.“
„Was macht ihr denn hier, kommen die anderen auch von weiter weg?“
„Wir studieren in Radolfzell an der Betriebswirtschafts­akademie, ich bin aus der Kasseler Gegend, einer aus Göttingen, einer aus Köln … und du?“ Susi musste lachen.
„Ach du meine Güte, dann kenne ich einen Dozenten von euch, ich arbeite bei ihm, bin die Erzieherin seiner Kinder. Meine Familie lebt in der Gegend von Hannover.“
„Na, das ist ja mal ein wahnsinnig schöner Zufall“, er zog sie an sich, denn „The House Of The Rising Sun“ erklang, angekündigt von dem jungen Mann am Mikrophon.
Susi schaute auf, ja, er überragte sie um einen ganzen Kopf und so, wie er sie hielt, meinte sie, keine Luft zu bekom­men, und sicher war die Wärme des Raumes daran schuld, dass ihr die Hitze ins Gesicht stieg, ihr Herz heftiger schlug, als gewohnt … ach nein, das kam sicher vom Tan­zen und der Freude, mal wieder richtig hochdeutsch zu hö­ren oder … sie wurde unsicher, denn er hielt sie so dicht an sich gepresst, bewegte sich mit ihr raumgreifend und dann wieder nur an der Stelle bewegend, ihre Leichtigkeit auskostend, mit der sie sich führen ließ, immer wieder auf die gesenkten Wimpern blickend, auch ihm wurde warm. Dann wieder ein Blick von ihr nach oben, eingefangen von seinem, sie beobachtenden …
„Ich heiße Susi und du?“
„Godehard, altmodischer Name, ich weiß“.
„Ach, ich werde dich Langer nennen, denn gegen mich bist du das, zumal du mich eben Lütte genannt hast“, durchbrach sie den Zauber, der sich breit machen wollte, holte auch ihn auf den Boden zurück.
Jäh schrak sie hoch, denn „Hang On Sloopy“ lief jetzt, der Lange hatte sie losgelassen und der Beat forderte nun die „Einzelkür“, gelöst voneinander, dennoch den gleichen Rhythmus spürend, wobei immer wieder die Blicke, die Hände sich trafen, dann „Only The Lonely“ und ganz be­sonders innig „Aber dich gibt’s nur einmal für mich“ und so wieder durch die Nähe, jede Berührung einen Schauer auslösend, Wechselspiel der Melodien, der Rhythmen, hier heiß und verlangend, dann schnell, aufputschend, gleich darauf wieder schmusig, werbend, haltend, um beide dann in den Taumel der Schnelligkeit, in die aufsteigende Hitze, die hastige Atmung zu versetzen, dass sie erst die Tanzflä­che tief atmend, mit fliegenden Pulsen verließen, als der Discjockey zur Pause läutete.
Die Musik wurde wieder lauter, fordernder, ließ den ande­ren jungen Männern keine Chance auf einen Tanz mit Susi, so sehr sie auch protestierten, denn der junge Mann, dreiundzwanzig Jahre alt, wie Susi inzwischen erfahren hatte, zog sie schon wieder auf die Tanzfläche, hielt sie in den Armen und sie ließen sich mitreißen von den Klängen, der Bewegung und als „Tell Laura I Love Her“ erklang, hob er mit seiner Hand ihr Gesicht zu sich und seine Lip­pen legten sich ganz weich auf die ihren. Getragen von dem Lied durchfuhr Susi ein heißer Blitz, den sie nie zuvor gespürt hatte, ihre eben noch festen Lippen wurden weich, lösten sich, öffneten sich, als seine Zungenspitze diese be­rührten, umrundeten, erforschend an den Innenseiten wei­terwanderten und dann in ihren nun auch leicht geöffneten Mund eindrang, sich bewegend, begrüßend, auffordernd, zum ewigen Spiel der Geschlechter, zum Schluss des Krei­ses von ICH und DU zum WIR, Flammen entfachend, die beide heftiger atmen, alles um sie herum vergessen ließen, nur noch den anderen fühlend, schmeckend, in ihn eintau­chend. Susi versank ganz in ihrem Gefühl und ihren Träumen, fühlte sich getragen, weggerissen in einem Strudel, der sie trotz aller Gewaltigkeit sie warm und mild einhüllte.


      

„Träumst du?“ Seine tiefe Stimme riss sie in die Wirklich­keit zurück, obwohl sie immer noch nicht das Gefühl hatte, in einer Diskothek zu sein. Ein weiches Lächeln lag auf ih­rem Gesicht. Mein Gott, wie jung und unschuldig sie aus­sieht, schoss es ihm durch den Kopf und im gleichen Mo­ment zog er sie wieder an sich, überwältigt von den eige­nen Gefühlen. Wie eine Feder lag sie in seinem Arm, den Kopf an seiner Schulter, jeden seiner Muskeln fühlte sie, atmete sein Rasierwasser, seinen Deodorant, seinen eigenen Körpergeruch ein, fühlte die Wärme, die beide Körper miteinander verband …
Beide waren so versunken, dass sie nicht merkten, wie so nach und nach die Tanzfläche sich leerte, die Freunde sich verabschiedeten und dann auch die Musik leiser wurde und dann endete, die Stimme von Henry, wie er sich am Plat­tenspieler nannte, sie in die Wirklichkeit zurück holte.
„Hallo, ihr Turteltauben, Schluss für heute, geht nach Hause.“
Verwirrt, verlegen wischte sich Susi die etwas feuchten Haare aus der Stirn. „Na, komm, Lütte, dann wollen wir mal los, die anderen haben uns ja schon verlassen.“
Hand in Hand schlenderten sie durch die Nacht zum Park­platz, immer wieder stehen bleibend, sich haltend, Mün­der, sich suchend und findend …
„So, mein Kleines, da sind wir.“ Tief atmend hielt er den Wagen vor dem großen Wohnblock an. „ Ich hoffe, wir sehen uns morgen?“
„Ja“, Susis Stimme kam leise und fast schüchtern, „wenn du willst gerne, denn morgen, das heißt heute“, lachte sie plötzlich, mit einem Blick auf ihre Armbanduhr „heute habe ich noch frei, muss erst am Montag wieder arbeiten.“
„Gut, ich hole dich um zehn Uhr ab, bist du dann schon wach?“
„Aber ja, ich komme mit wenig Schlaf aus. Ich freue mich.“
Mit einem „Ich mich auch, sehr“, schloss er sie noch ein­mal in die Arme, um sie ganz sanft zum Abschied zu küs­sen, vorsichtig fast, um nicht wieder Emotionen hoch­kommen zu lassen, „Schlaf schön und träum von mir.“
„Das habe ich doch schon ewige Jahre!“
„Wie meinst du das?“
Sie lachte: „Genau wie ich es sagte.“
Fast mühsam lösten sie sich voneinander, Susi sprang aus dem VWCabrio, dann stand sie auch schon an ihrer Haustür und winkte dem in der Dunkelheit ver­schwindenden Auto nach.
Sie konnte nicht schlafen. Leise verließ sie wieder die Wohnung, um auf den am Ende des Flurs liegenden Dach­garten zu gehen. Ein klarer Sternenhimmel zeigte sich ihr, zunehmender Mond verbreitete ein sanftes Licht, ein Windstoß ließ sie erschauern.
Schon richtig herbstlich die Gerüche, nahm sie wahr und wiegte sich auf der Erde sitzend, mit den Armen sich selbst umschlingend, summend stieg ein Lied in ihr auf „Danke, für diesen guten Morgen, danke, für diesen schö­nen Tag, danke, dass ich all meine Sorgen auf dich werfen mag …“

Bewegte Zeiten, Treffen nach der Arbeit und immer wieder diese innigen Momente, Minuten, Stunden … sie sahen sich nur an, Blicke verschmolzen und die Hände fanden zueinander, sich haltend, fest aneinandergepresst oder nur so locker mitten im Spaziergang.
Der Herbst verging viel zu schnell. Susi hatte vier freie Tage, da in Zürich Aufnahmen für einen Sommerkatalog gemacht werden sollten. Die Trennung fiel ihr unsagbar schwer, aber auch Godehard konnte sich kaum von ihr lösen.
Winkend, wie sie ihn bei der Abfahrt in Erinnerung be­hielt, so stand er auch bei ihrer Ankunft wieder da, um sie abzuholen.
„Mein Gott, Lütte, hast du mir gefehlt, ich habe es fast nicht ertragen.“ Über und über bedeckte er ihr Gesicht mit Küssen, seine Hände umfingen ihre schlanke Taille, glitten den Rücken rauf und runter, Erregung ergriff beide, doch dann sahen sie sich an, lachten und Susi meinte nur, „Ich war doch nur vier Tage weg“, „Ja, und vier lange Nächte.“ Seine Stimme war nicht ganz fest, wie Susi erstaunt be­merkte und sie in einen Glückstaumel fallen ließ. Wie schön es doch war, zu einem geliebten Menschen heim zu kommen.
Ihr kleiner Koffer war schnell im Auto verstaut.
„Du kommst mit zu mir? Ich habe etwas zu essen vorbe­reitet. Hans ist bei Maria und meiner Zimmerwirtin habe ich gesagt, ich bringe Kommilitonen zum Lernen mit. Dann können wir uns noch einen gemütlichen Abend ma­chen.“
Susi kannte das kleine Zimmer in der WG, einer Zwei­zimmerwohnung, die Godehard mit Hans teilte, noch nicht. Es war nirgends erlaubt, Andersgeschlechtliche mitzu­bringen.
Susi staunte, der Lange hatte tatsächlich einen irischen Eintopf gezaubert, mit zwei Kerzen den kleinen Tisch ge­schmückt, eine Rose lag an ihrem Teller und Weißwein schenkte er ein. Sie saßen auf seinem Bett, das Essen war kalt geworden, stumm hatten sie sich nur angesehen, ganz von selbst näherten sich ihr Gesichter, die Lippen fanden sich, heiß, erregend das Spiel der Zungen, aneinander ge­wöhnt, vertraut und doch immer wieder neu erforschend, dabei wanderten die Hände über die Körper, im Gleichtakt zogen sie sich die Pullover über die Köpfe, sofort wieder zum Kuss zusammenfindend, suchende Hände, streichel­ten, sanft, sanft auch die Küsse, dann immer fordernder, verlangend. Zurückgesunken auf das schmale Bett streifte er nun ganz langsam ihre Hose herunter und sie beant­wortete das auf gleiche Art, ohne Scheu, ohne Aber, ganz auf die Stimme im Innern hörend, die immer wieder rief, ich gehöre nur noch ihm
Seine Lippen glitten von ihrem Mund über den Hals, sanft nahm die Zunge den Geschmack der Haut auf, die glühte und pochte, seine Hände streichelten die Beine außen, auf und ab, mal den Po umkreisend, dann wieder über Bauch und Brüste gleitend, seine Zunge, seine Lippen umkosten die harten Brustwarzen, ganz sanft schob sich nun eine Hand zwischen ihre Schenkel, die sie ihm willig öffnete, ganz gefangen von der Sanftheit, den Flammen, die seine Küsse, seine Berührungen auslösten, sie spürte sein hartes Glied an ihrem Oberschenkel, hob sich ihm entgegen, sie hielten sich umschlungen als er ganz leicht und sanft ein­drang über den feuchten Weg des Verlangens, sehnsüchtig von ihr empfangen und aufgenommen, im gleichen Rhythmus sich bewegend, beider Atemzüge wurden lauter, heftiger, mühsamer … Susi flog auf Engelsflügeln direkt in den Himmel, wurde von einer Wolke zur anderen getra­gen, eine Woge der brodelnden See und des lodernden Feuers vereinigten sich und warfen sie mit einem nicht en­den wollenden Schwung höher und höher, schneller und schneller, bis ihr heller Schrei auch ihn auf den Höhepunkt zu trieb und beide, immer noch eins im Fühlen und Sein, eng umschlungen, in der Bewegung des anderen mit­schwingend, langsam wieder zu ruhigerem Atem fanden, sich gegenseitig die feuchten Gesichter abwischten und dann völlig versunken, fast noch ineinander verknotet still lagen. Gleichmäßige Atemzüge, Hände, die nicht aufhören konnten zu streicheln, Münder die sich wieder fanden, das Spiel der Zungen wieder aufnahmen und Körper, die nicht genug von einander bekommen konnten.
Die Kerzen waren lange schon herunter gebrannt und die kleinen Dochte im letzten heißen Wachs ertrunken, das Essen stand kalt auf dem Tisch, der Wein fast unberührt in den Gläsern und irgendwann zeugten gleichmäßige Atem­züge davon, dass die angenehme Müdigkeit nach dem so genannten kleinen Tod nun in tiefen Schlaf übergeglitten war. Im Schlaf löste sich nur einmal kurz die innige Um­armung, als der Mann nach der Decke griff und sie über sich und die junge Frau zog.

      

Unendliche Mengen Schnee brachte dieser Winter. Immer wieder starteten die jungen Leute an den freien Tagen ins nahe Österreich, um dort Ski zu laufen. Österreich, Schweiz, herrliche, ausgelassene Schussfahrten, Schnee­ballschlachten, die Fahrten mit den Schleppliften, ach al­les, was sie erlebte, ließ Susi das Gefühl von wahr gewor­denem Märchen empfinden und nicht mehr träumend ge­noss sie jeden Tag, jede Stunde, jede Minute dankbar.
Wie schnell die Zeit voranschritt. Susi machte ihren Segel­schein, denn die Studenten hatten viele Klausuren zu schreiben, und Susi traf sich mit Godehard nicht so häufig, weil er lernen musste. Aber auch dies ging einmal vorbei, es wurde gefeiert, denn alle hatten die Zwischenprüfungen bestan­den. Schon im April wurde es so warm, dass die ersten Mutigen im Bodensee badeten.
Aus dem herrlichen Früh­ling ging es nahtlos in einen heißen Sommer über, den sie mit Schwimmen und Bootsfahrten genossen.
Godehard und Susi saßen Sonntagabend in der kleinen Eisdiele, tranken einen Eiskaffee.
Doch was war mit ihm los. Warum war er so gedankenverloren, schaute sie an und wieder weg, setzte zum Sprechen an und sagte dann doch nichts?
„Was ist los mit dir, du bist so anders als sonst, sag mir doch, wenn dich etwas bedrückt“, Susi sah ihn fragend an, doch er wich ihrem Blick aus.
„Lütte, ich muss dir etwas sagen und du wirst mich dafür hassen.“
„Aber Blödsinn, was soll das denn sein, sag schon…“ Er nahm ihre Hand. „Süßes, du weißt, dass ich dich sehr lieb habe, aber ich war nicht ehrlich mit dir und muss das end­lich loswerden.“
Susis Hände, die er hielt, fühlten sich plötzlich eiskalt an. Als griffe eine eiskalte Hand an ihr Herz, presste es zu­sammen, fühlte sie sich gerade in dem Moment … Ker­zengerade wurde ihr Rücken.
„Weißt du, als ich hier runter kam, war ich schon verlobt, ich habe einer Frau die Ehe versprochen, ihre Eltern finan­zieren mein Studium und ich kann nicht zurück, wir wol­len im Spätsommer heiraten. Ich war in Kiel, um die Vor­bereitungen mit ihr zu treffen, das Aufgebot ist bestellt.“ Aufatmend lehnte er sich zurück. Er fühlte sich hundsmi­serabel, war aber froh, dass es nun heraus war. Er sah ihre aufgerissenen Augen, den süßen Mund halbgeöffnet, kein Wort kam von ihr, sie war starr, sie konnte es nicht glau­ben. Wach auf, du Dumme, du träumst mal wieder einen schlechten Traum, versuchte sie sich wieder zu sammeln, aufzuwachen, zu sehen, wie er sie auslachte, wenn sie ihm von diesem Traum erzählte, doch nichts änderte sich, er saß weiter da, seine langen schmalen Finger streichelten ihren Handrücken, sein Blick suchte den ihren, bittend, flehend …
„Danke, dass du es mir sagst“, er traute seinen Ohren nicht, ganz ruhig, ja fast gelassen kam dieser kurze Satz. Wie froh war er, dass keine Szene gemacht wurde, dass sie so friedlich war.
„Das ändert nichts an unserer Beziehung denke ich, du verlierst mich ja dadurch nicht.“
Sie lächelte, trank ihren Eiskaffe aus, befreite ihre Hände aus seiner Umklammerung, stand nach einem Blick auf die Uhr auf, „Ich muss gehen, meine Mittagspause ist vorbei, ich muss arbeiten.“ Sie beugte sich vor, küsste ihn auf die Wange, legte eine Mark auf den Tisch und verließ lächelnd die Eisdiele, bevor er über­haupt schalten konnte. Als er bezahlt hatte und raus kam, war sie schon verschwunden und er fluchte laut, dass er nicht mit dem Auto gefahren war, denn dann hätte er sie schnell wieder eingeholt.
Susi verschwand sofort in einer Gasse und lief auf Umwe­gen zu ihrer Arbeitsstelle. Am Bahnhof kaufte sie einige Zeitungen, von denen sie gehört hatte, dass hier der größte Anzeigenteil deutschlandweit zu er­warten sei.
In ihrem Zimmer angekommen, nahm sie Blatt und Stift und schrieb sauber und ordentlich ihre Kündigung, faltete das Blatt zusammen und legte es auf den Esstisch. Nun legte sie sich auf das Bett, breitete die Zeitungen aus und begann die Stellenanzeigen zu studieren und unter vielen Angeboten stach ihr eine ins Auge, Köln, ja, das war weit genug entfernt, und Köln war schon deshalb ein Haupttreffer, weil ihr geliebter Bruder Ralf dort wenige Kilometer weiter in Porz lebte, er hatte inzwischen gehei­ratet und Ria erwartete ein Baby.
Sofort suchte sie ihre Papiere zusammen. Noch hatte sie einige beglaubigte Kopien, konnte also gleich ihr Bewer­bungsschreiben fertig machen. Noch in der Nacht lief sie zur Post, wo sie aufatmend den Brief einwarf. Ihr Blick war seltsam starr, der Mund zu einem leisen Lächeln verzogen, sie fühlte sich kalt, doch kein weiterer Gedanke blieb im Kopf hängen, sie wirkte wie ein Roboter, fühlte nichts, handelte nur und auch am folgenden Tag nahm sie pflichtbe­wusst wie gewohnt die Kinder in Empfang. Sie stand dem Ehepaar Rede und Antwort, gab als Kündigungsgrund das verhasste Durchgangszimmer, die stets fehlende Mittagszeit, die Arbeitszeit von oft 12 Stunden und das dafür zu geringe Gehalt an.
Susi packte. Zwei Koffer hatte sie schon zum Bahnhof ge­bracht, sie hatte sich ein Taxi geleistet. Keiner wusste davon, doch sie musste den Schlussstrich ziehen, denn er hielt fest, er wollte alles … die Geliebte, die Frau, die sein Eheverspre­chen hatte, und dadurch die Möglichkeit, in Ruhe sein Studium zu Ende zu bringen, ohne Geldnot, ohne nebenher arbeiten zu müssen, wie viele seiner Kommilitonen.
Heute würde sie es ihm sagen, denn morgen ging die Fahrt nach Köln.
Der Abend war schlimm. Godehard und die Freunde beg­riffen gar nicht, dass Susi sich so plötzlich verabschiedete und alles verheimlicht hatte.
Starr vor Schmerz, den sie sich aber nicht anmerken ließ, ja, die Fröhliche, Begeisterte in Formvollendung spielend, umarmte sie alle, lehnte ein Mitkommen in Godehards Wohnung ab, küsste ihn kurz, als er sie vor der Haustür absetzte, verschwand mit einem kurzen Winken im Haus. Schwer atmend lehnte sie sich an die Wand, nun konnte sie die Theateraufführung beenden und schluchzend brach der ganze Trennungsschmerz über ihr zusammen.
Als der schrille Pfiff des Schaffners dem Zugführer das Zeichen zur Abfahrt gab, gellte er in Susis Ohren noch lange nach … Ihr Blick wanderte über die vorbeihuschenden Dörfer und Städte, die von der eben erst über den Horizont stei­genden Sonne in goldenes Licht getaucht wurden, golde­nes Erwachen, ja, das war anders als das bittere Erwachen, das Susi durchlebte, aber wieder einmal setzte der Optimismus sich durch und sie sah in der Zukunft eine Chance, eine Chance auch für ein neues Glück?