Ganz klein sah ihr Gesicht aus. Wie eine
Landkarte gezeichnet ihre immer noch feinen Züge.
Furchen und Runen zeugten von viel
Erlebtem, sicher nicht immer nur Gutem, aber ganz feine Fältchen um die Augen
und den Mund spiegelten die Fröhlichkeit der langen Lebensjahre, mit der sie
immer wieder sich das Licht in graue Tage geholt hatte.. Sie milderten die
Schärfe der Linien, die sich von den Wangenknochen bis zum Hals schlängelten.
Die schlanken Hände, bedeckt mit
hervortretenden Adern, gepflegt und doch von dem Anpacken erzählend, ein wenig
gekrümmt die Finger, die immer noch so weich und wohltuend eine heiße Stirn
kühlen konnten, lagen ruhig in ihrem Schoß, übereinander gelegt, ein wenig die
Fingerenden verhakt, als müsse sie sich selbst festhalten, nach Jahren der
rastlosen Tätigkeiten.
Ab und zu, wenn sie von früher mit leiser
Stimme erzählte, blitzen die Augen, schalkhaft zwinkernd und wenn sie lächelte,
erstrahlte ihr Gesicht, beleuchtet von innerer Wärme, in einer fast
jugendlichen, rosigen Schönheit.
Ihre Zuhörer saßen eng an sie geschmiegt
und wer keinen Platz in ihrer unmittelbaren Nähe erhaschen konnte, versuchte,
durch Anlehnen an den Nächstsitzenden den Kontakt aufzubauen.
Junge und alte Zuhörer wandten ihre
Gesichter der Erzählerin zu. Und wenn man genau hinsah, konnte man feststellen,
dass die Augen der meisten fast unruhig hin und her flogen…seltsam in dieser so
ruhig anmutenden Runde. Aber ja, durch die tastenden Berührungen, dem oft
leicht schräg geneigten Kopf einiger Lauschenden wurde man dann gewahr, dass in
vielen Augen das Licht fehlte, dass es sich hier um blinde Menschen handelte.
Blind geboren, durch Erkrankung erblindet,
durch Alter oder Unfall.
Alle diese vom Schicksal gerüttelten
Menschen hatten auf Grund ihrer Lebensumstände bisher nie gelernt, die
Blindenschrift zu lesen.
In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen,
oft als lästig von den Angehörigen weggesperrt, hatten sie hier im Sankt-
Marien- Heim eine neue, liebevolle Aufnahme erfahren und sogen jedes Wort
gierig in sich auf, dürstend nach Wissen, Erleben, Gelebtem.
So waren schon das Radio, die Geschichten
der CD´s und Cassetten eine ganz neue, atemberaubende Welt für sie.
Doch die Stunden mit „Tante Martha“, wie
sie von allen liebevoll genannt wurde, gehörten zu den lehrreichsten, weil
innigsten Begegnungen, denn in ihrer so sehr liebevollen, ruhigen Art konnte
sie in ihren Erzählungen aus ihrem so langen Leben auch sehr viel Wissen und
Lehrreiches weitergeben.
Sie schilderte Leben, Gerüche, Bilder so
intensiv, dass jeder sich ein eigenes Bild, eine eigene Geschichte im Innern
erstehen lassen konnte, so erleben, miterleben konnte, was ihm vorher verwehrt
war.
Eine Symbiose, die in unserer gehetzten,
nach Geld und Vorteil strebenden Ich- Welt einen ganz besonderen Stellenwert
einnahm.
Da die Benachteiligten, in ihren
Fähigkeiten noch Eingeschränkten und vorher fast Vereinsamten und dort diese
kleine, uralte Frau, allein, weil sie durch Krieg und Krankheit alle
Angehörigen verlor, aber durch ihren
starken Willen, Anderen nahe zu sein, Werte
zu vermitteln, wie in einer Familie nun ihre letzten Jahre verbringen konnte.
Wir sollten öfter hinschauen, wenn uns das
Leben zeigt, wie jedes noch so schwache Glied einer Kette gehalten wird, wenn es
nach mehreren Seiten von einem anderen abgesichert wird.