Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben. (Jakob Böhme)

Sommer 1944



„Leise, leise! Wir können einen Wagen hören, er kommt in unsere Richtung.“
Käthe  schob den Korb mit den zwei Wasserkannen und einem Brot durch die kleine Falltür vom Stall, die nach unten in das alte Vorratslager führte, „Später oder heute Nacht lasse ich euch wieder einzeln ins Haus, dann könnt ihr euch waschen!“  verschloss die Luke wieder, verteilte auf dem  Boden Stroh und lauschte auf ihr hart  pochendes Herz.
Was würde ihnen allen passieren, wenn es heraus käme, dass sie 12 Menschen hier versteckte.
Doch nach Allem, was sie über Riga-Kaiserwald  gehört hatten, konnten sie nicht anders. Das Lager war erst im vergangenen Jahr richtig eingerichtet worden, die Gefangenen arbeiteten zwangsweise für deutsche Großfirmen in der Produktion ihrer Elektrogeräte, viele Gefangene waren aber schon hingerichtet worden.
Da waren Jakob und Hannah mit ihren halbwüchsigen Kindern  Georg-Wilhelm, Hans-Wolfram und Liese-Lotte. Sie war mit Hannah zur Schule gegangen, nie hatte es Unfrieden gegeben, Lilo war ihr Patenkind. Hannah und die Kinder waren getauft, doch jüdischer Herkunft.
Als sie bei Nacht und Nebel mit wenigen Habseligkeiten bei ihr auf dem kleinen, abgelegenen Hof in Cerkste standen, konnte sie sie doch nicht wegschicken.
Vor drei Tagen standen dann plötzlich 7 Menschen vor ihr, die aus verschiedenen Richtungen aus dem sicheren Wald gekommen waren. 3 Frauen und vier Männer waren einem Konvoi entkommen.
„Sie schaffen alle aus dem Lager weg, erschießen die ganz Jungen und die Alten, wir konnten aus dem LKW entkommen, als ein Reifen platzte. Sie haben auf uns geschossen und sicher viele getroffen.“
Ihr Mann Karl war offiziell als Fischer unterwegs, brachte aber tatsächlich mit seinem Freund
 flüchtige Juden nachts nach Engure, wo ein Fischkutter diese Menschen aufnahm, um sie über mehrfaches Umladen an der Küste Lettlands entlang bis nach Ventspils, von dort nach Gotland, dann bis Vaxholm zu bringen, von wo aus sie Stockholm erreichen konnten.
Da mittlerweile alle Seewege massiv vermint waren, wurde es fast unmöglich, weitere Flüchtlinge, die von Polen her immer noch ins Land strömten, in Sicherheit zu bringen.
Sie bewirtschaftete  die Ställe, den Acker  und Garten  mit Celina, ihrer Kusine und  deren  Mann Heinrich. Heinrich hatte auch die Idee mit dem geräumigen Vorratskeller gehabt, der noch bei ihren Schwiegereltern genutzt wurde.
Der Stall an sich bot schon den Sichtschutz, den sie brauchten, um Stroh und Decken in dieses unterirdische Gelass zu bringen und den Raum zu erweitern. Tag für Tag wurde gegraben und die alten Bretter von dem unweit umgefallenen Schober stützten die Wände. So konnten sie aus dem einen vorhandenen gemeinsam zwei ineinander übergehende, schlauchförmige Räume von jeweils ca 8 qm schaffen.
Da es im Umkreis von 4 km keinen anderen Hof gab, waren sie relativ sicher, obwohl in den letzten Monaten immer häufiger die deutschen Kontrollen, 2-4 Mann stark, mit schmutzigen Stiefeln durchs ganze Haus polterten, alles aus den Schränken rissen, auch in jeder Stallecke stocherten und dann wieder abzogen.
Es wurde dann eng und stickig in dem kleinen Unterschlupf, der  aber immer wieder verlassen werden konnte, wenn die Gefahr vorbei war, der Stall bot dann noch genügend Schutz.
Zwei hielten stets auf dem Heuboden Wache an den winzigen Luken, von denen aus man einen guten Überblick über das Gelände bis zum Wald hatte.
Das Essen wurde nicht zu knapp, denn jetzt im Sommer wuchsen die Vorräte geradewegs in die hungrigen Münder. Obst und Gemüse für sättigende Suppen und auch Milch, von den letzten beiden Kühen, ließ keinen hungern.
Im September 1944 räumten die Deutschen die Lager, viele Häftlinge wurden erschossen, bevor im Oktober die rote Armee das KZ erreicht.
Käthes Gäste haben alle überlebt. Martha erlag am 23. Januar 1945 einem Herzinfarkt, nachdem sie die Nachricht von Karls Tod auf See erfuhr.  Käthe und Karl waren meine Großtante und-Onkel.

Flora von Bistram 1994