Er sah ihr einfach nur entgegen, unbeweglich an den Baum
gelehnt, die Wange an ihn geschmiegt, so in der Silhouette fast eins mit dem
Stamm, unkenntlich fast das Gesicht im Schatten, doch die brennenden Augen
leuchteten. Hier hatte er immer auf sie gewartet, hier, wo er sie das erste Mal
gesehen hatte, als er glaubte, einem Spuk zu begegnen.
Erst vier Wochen war es her, dass sich sein Leben so
unglaublich verändert hatte.
Wieder einmal war er völlig genervt gewesen von der
schrillen Stimme seiner Frau, die ihn beim Heimkommen von seinen wichtigen
Außendiensttätigkeiten nur noch mit Ausrufen „woher so spät, warum so
schweigsam, du betrügst mich, du bist immer nur müde“ und ähnlichen Ausbrüchen
umringte, dass er es nun nach so vielen Jahren nicht mehr ertrug, seine Jacke
schnappte und fluchtartig das Haus verließ.
Aufatmend lief er in der beginnenden Abenddämmerung zum
nicht weit entfernten Wald. Tief atmend nahm er den würzigen Duft der Felder
und Wiesen, die Geräusche des Waldes auf. An an einem Baum blieb er stehen und
ließ den Blick über die Lichtung schweifen, die einen schmalen Spalt zum
Firmament freigab. Noch konnte er die letzten Himmelsmalereien des
Sonnenuntergangs bewundernd aufnehmen, bevor auch das letzte Sonnenlicht sich
der hereinbrechenden Nacht beugen musste.
Er zuckte zusammen, glaubte seinen Augen nicht zu trauen,
als er plötzlich eine zarte Gestalt im hellen Mondschein durch das Gras tanzen
sah. Mit ausgebreiteten Armen, den Kopf in den Nacken gelegt, das in diesem
Licht ätherisch anmutende Gesicht dem Himmel zugewandt, drehte sie sich im
leichten Nachtwind, dass die langen Haare sie wie duftige Schleier umschwebten,
zu einer entzückend geträllerten Melodie.
Starr vor Bewunderung, erstaunt über das heftig klopfende
Herz, stand er wie verwachsen mit dem Wald, voller Angst, sich zu bewegen, um
den süßen Spuk nicht zu verscheuchen oder unsanft aus einem Traum zu erwachen.
Wie Schmetterlingsflügel bewegten sich nun ihre Arme, bevor
sie ganz plötzlich Anlauf nahm, um dann radschlagend die kleine Wiese
einzunehmen, biegsam wie eine Gerte, leicht wie ein Vogel, dabei immer wieder
ein glückliches „Hey“ ausrufend und von Zeit zu Zeit stehenbleibend, um das
federleichte Gespinst von Kleid wieder zu ordnen.
Eine winzige Wolke schob sich vor den Mond und verdunkelte
den Schauplatz in Sekundenbruchteilen und als sich dieser wieder erhellte, war
der Spuk vorbei.
Er löste sich von dem Platz, sein Blick schweifte suchend
umher, voller Schmerz und Trauer, als hätte er einen sehr schweren Verlust
erlitten.
„Kleine Melyanna“, flüsterte er heiser, „wo steckst du
denn?“
Der Name war ihm spontan aus Tolkiens Büchern eingefallen.
Er erinnerte sich, Melyanna bedeutete Liebesgeschenk.
Sein Mund war trocken, sein Puls erhöht, er fühlte sich wie
einst der Junge, der heimlich mit den Freunden bei den Mädchen in der
Badeanstalt in die Umkleidekabinen geschaut hatte. Doch es wurde schlimmer,
denn es bemächtigte ihn eine Unruhe, die er kaum einordnen konnte. Ihm wurde
heiß in der Erinnerung an die Erscheinung, die sicher kein Traum gewesen war,
denn sein Blut wallte und ein Sehnen ergriff Besitz von ihm, wie er es noch nie
in seinen nun dreiundfünfzig Lebensjahren gefühlt hatte.
Immer noch am Lichtungsrand entlanggehend, die suchenden
Blicke durch Gras und Bäume schickend, bewegte er sich voller Bedauern, aber
auch erfüllt von einem unermesslichen Glücksgefühl, in Richtung Straße, um dann
nach Hause zu gehen.
Zum ersten Mal in den 11 Ehejahren verspürte er ein
schlechtes Gewissen, als er seine Frau auf dem Sofa eingeschlafen vorfand,
bekleidet mit ihrer schlabberigen Jogginghose, die Haare seit ein paar Jahren
kurz geschnitten. „Ist praktischer“, war ihre kurze Erklärung gewesen. Selbst
jetzt im Schlaf hatte sie den ewig unzufriedenen Zug um den Mund und er hörte fast schon wieder ihre Stimme, die ihn seit
Jahren quälte.
Er hätte sich gleich scheiden lassen sollen, als sie ihn
betrogen hatte, doch er hatte sich von ihren Tränen und Versprechungen
überreden lassen, es noch einmal miteinander zu versuchen. Das stellte sich im
Laufe der folgenden Jahre als schwerer Fehler heraus, denn wenn sie ohne ihn zu
Feiern oder Feten ging, ließ sie sich gerne als einsame Frau trösten. Er konnte
seinen Beruf nicht an den Nagel hängen, er war nun mal selbstständig, war sein
eigener Außendienstler, immer gewesen und liebte seinen Beruf, die kleine
Firma, die schon sein Vater betrieben hatte. Er liebte die alte Dame, die die
Büroarbeiten schon seit über fünfzig Jahren erledigte, wie eine Mutter. Leider
hatte er es aber in über dreißig Jahren Ehe nicht geschafft, seine Frau, die
nie einen Beruf gelernt hatte und meinte, auch keinen zu brauchen, für die Firma zu interessieren. Gerne hätte er
sie eingearbeitet, um eine Nachfolgerin aufzubauen, wenn seine zuverlässige
Angestellte nicht mehr arbeiten wollte oder konnte. Nein, seine Frau
interessierte sich nur für das Geld, das er verdiente, seit sie das Kind, von
dem er nicht genau wusste, ob es seins war,
verlor.
Als er vor Jahren von Scheidung sprach, drohte sie mit
Selbstmord und er sprach das Thema nie mehr an.
Doch verlief sein Leben nicht eintönig, da die Fahrten durch
Deutschland immer wieder Freude vermittelten, ihm Städte und Landschaften
nahebrachten, er mit den Menschen, die er kannte, gute Kontakte pflegte.
Er atmete durch, nahm die Wolldecke, die vom Sofa gerutscht
war, deckte seine Frau zu und ging in das Bad. Aufgestützt auf den
Waschbeckenrand sah er sich im Spiegel an, verfolgte die feinen Spuren des
Lebens. Er entdeckte einen Glanz in seinen Augen, den er nie vorher gesehen
hatte und ein feines Lächeln umspielte die Mundwinkel, zauberte kleine Falten
um die Augen und gaben dem Gesicht eine Lebhaftigkeit, die ihn selbst
erstaunte.
Der folgende Tag war nur Qual, denn seine Gedanken waren
trotz einer traumlos durchgeschlafenen Nacht nicht bei der Arbeit, den
Telefonaten, nein, vor dem inneren Auge zog der Zauber der nächtlichen Stunde
immer wieder vorbei, verlockte ihn, die Augen zu schließen, um sich Träumen und
Wünschen hingeben zu können. Eine einzige Sehnsucht beherrschte ihn, dem Drang
nachgeben zu können, wieder zu der Lichtung zu laufen, zu sehen, ob der
Wachtraum sich wiederholen würde.
Und endlich brach der Abend an, die fiebrig heiß ersehnte
Dämmerung war nah und die weinerliche Stimme seiner Frau, die wieder einmal
über die Nachbarin herzog, nicht mehr wahrnehmend, missachtend, verließ er
eilig das Haus, seine Füße trugen ihn an den Platz und still verharrend
lauschte er, ob er leichte Füße, ein fröhliches Singen auffangen könne, doch
alles blieb still, die Stille nur unterbrochen von den Lauten der beginnenden
Nacht.
Da, waren das nicht ihre Schritte? Nein, ein Rehbock brach
witternd aus dem Unterholz und betrat, immer wieder starr verharrend die
Lichtung.
Zu anderen Zeiten hätte dies den Wartenden zutiefst berührt,
liebte er doch den Wald mit all seinem Leben, ja die Natur überhaupt, aber
heute war die Enttäuschung übergroß, das heißersehnte Wesen nicht sehen zu
können.
Er setzte sich auf den Baumstumpf, in Gedanken die Bilder
der vergangenen Nacht heraufbeschwörend, sah die Wolkenfetzen, die den immer
noch vollen Mond umspielten, vertiefte sich in die Betrachtung der Sterne, von
denen er so gerne mehr wissen wollte. Die Zeit hatte es nie zugelassen , sich
intensiver damit zu beschäftigen, das Geschäft hatte Vorrang. Bei dem Gedanken
nickte er. Ja, er hatte sein Leben diesem Geschäft verschrieben, hatte nie nach
rechts und links geschaut, nur geradeaus, sorgen für sich und seine Frau, die
ihn vor Jahren umgarnt und geheiratet hatte. Er fühlte sich getrieben von seinem
ewigen Gefühl, seiner Pflicht auch wirklich nachzukommen, eigene Wünsche und
Bedürfnisse außer Acht zu lassen. Es gehörte sich nun mal so, so war er von
seinem Vater nach dem frühen Tod der Mutter erzogen worden und er hatte nie
versucht, sich aufzulehnen.
Tief durchatmend nickte er und dachte: „Ich will endlich
mein Leben leben!“ schreckte im gleichen Moment hoch, erstaunt darüber, dass er
es wagte, auch nur an Auflehnung zu denken. Sofort merkte er, dass er es laut
ausgesprochen hatte, denn eine leise Stimme antwortete: „Das will ich auch.“
Und da stand sie. Klein, zierlich, umflossen von ihren
Haaren, die nur mit einem Stirnreif gehalten wurden. Sie war älter, als er
vermutet hatte, kein Mädchen mehr, sondern eine reife Frau, die das Funkeln in
seinen Augen genoss, seine Hand ergriff, ihn auf die Lichtung führte, um ihn
dann in das Gras hinunter zu ziehen. Als er sprechen wollte, legte sie ihm mit
einem liebevollen „psst“ ihre Hand auf
den Mund, die sie dann aber wegzog, um Platz zu machen für ihre Lippen, die ihn
völlig überwältigten. Im Wispern des Windes, dem leisen Rauschen des Waldes
fanden zwei Menschen sich in einem Reigen voller Sinnesfreude, einer Begegnung
der Körper, die in der Zärtlichkeit mit Gefühl den Hunger nach liebevoller
Berührung und Vereinigung erkennen ließen.
Er fuhr hoch, war er doch tatsächlich etwas eingeschlafen?
Hatte er geträumt, seine Wunschvorstellungen mit in das Abgleiten aus der
Wirklichkeit genommen. Er setzte sich auf, fühlte eine leichte Feuchtigkeit und
Kühle hochsteigen, erschauerte kurz, um festzustellen, dass er alleine und
nackt im Gras gelegen hatte. Der
Haarreif neben ihm, daliegend wie ein Pfand von ihr, bezeugte, dass er alles
wirklich erlebt hatte.
Während er sich langsam anzog, huschten Momente durch sein
Sinnen, Momente der Lust, der Innigkeit, wie er sie eben erlebt hatte. Da fiel
ihm brennend heiß ein, dass sie nicht einmal voneinander die Namen wussten,
geschweige denn mehr, doch er war sich sicher, dieser Traum würde weiter gehen.
Sie würden sich morgen wiedersehen, hier auf ihrer Lichtung.
Er saß in seinem Auto. Straßauf, straßab, kreuz und quer
führte ihn sein unruhiges Herz durch die umliegenden Dörfer. Umherstreifende
Blicke, hoffnungsvoll, das geliebte, von ihm
heißbegehrte Wesen zu erspähen, doch umsonst, keine Spur von ihr und so
blieb ihm die Hoffnung auf die Nacht. Ein sorgenvolle Blick zum Himmel, der
sich jedoch gleich wieder entspannte, denn der Wettergott war mit ihnen.
Oh mein Gott, wie sehr war er verliebt, nein, das traf es
nicht, er liebte, er liebte, wie er es nie zuvor kennengelernt, wie er es auch
nie vermisst hatte, denn was man nicht kennt, kann man wohl auch nicht
vermissen. Am liebsten hätte er ganz laut gesungen, so übervoll an Glück war
er.
Und nun stand er hier wieder, genau wie vor vier Wochen, er
sah sie tanzen, wieder tanzen für ihn im Vollmond auf der Wiese, seine kleine
Melyanna, wie er sie immer nannte, worauf sie ihn fröhlich lachend als Elu
Thingol bezeichnete.
Nacht für Nacht hatten sie sich getroffen, sahen sich an,
liebkosten einander, hielten sich in den Armen, doch immer, wenn er Fragen
stellte, mehr über sie wissen oder von sich erzählen wollte, verschloss sie mit
einem Kuss seinen Mund und schüttelte den Kopf.
Heiße Erregung schoss in ihm hoch. Er glaubte, sein Herz
müsse vor Liebe zerspringen. Ein Gefühl abgrundtiefer Angst erfasste ihn, denn
sie hatte gesagt:“Nur heute tanze ich noch einmal für dich“ und er konnte es
nicht einordnen, wie sie es gemeint hatte. Er umklammerte den Baum, die
brennenden Augen auf sie geheftet, ihre Bewegungen aufsaugend, um sie für immer
festzuhalten, in sich einbrennend, um nie wieder ohne diese Bilder zu sein.
Ärgerlich wischte er die Tränen ab, die ihm plötzlich in die Augen stiegen…
Dann war sie
verschwunden, weg, einfach so. Er suchte, er rief, er rannte über die Wiese,
den Waldrand entlang, entdeckte im feuchten Gras ihren Haarreif, an dem ein
Zettel befestigt war. Er fluchte, hatte er doch nicht mal ein Feuerzeug dabei,
um zu entziffern, was sie schrieb, geschrieben hatte. Doch gleich nach
Erreichen der beleuchteten Straße glättete er mit bebenden Fingern das Papier.
Geliebter Elu Thingol,
ein Sommermärchen geht zu Ende und ich habe nie, niemals
vorher solche Stunden erlebt. Ich nehme sie, trage sie in mir und werde dich
fühlen, solange ich lebe.
Such mich nicht, du wirst mich nicht finden, behalt mich im
Herzen, in das du mich in unseren Nächten eingeschlossen hast.
Wenn du auf unsere Lichtung gehst, schließ die Augen, sieh
mich tanzen, nur für dich und hör in den Stimmen des Waldes, im Rauschen der
Bäume, in den Geräuschen der Nacht unsere Sommersinfonie.
Melyanna ist die Gattin von Elu Thingol.
Ich bleibe auf ewig die Deine,
die, der du Leben einhauchtest