Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben. (Jakob Böhme)

#Toleranz




Katharina hielt sich für einen vollkommen toleranten Menschen, doch was sie da sah, war einfach nur abstoßend asozial. Das war das, was ihr dazu einfiel.
 Da saß er doch schon wieder in seinem Garten, in Unterhemd und flatteriger Turnhose, die sicher auch schon bessere Zeiten gesehen hatte und winkte freundlich, mit einem verschmitzten Grinsen in dem stoppeligen Gesicht herüber. Sie nickte verhalten zurück, wandte sich dann aber schnell wieder ab. Ihr perfekt geschminktes Gesicht wirkte kühl, fast angewidert. Wie konnte sich ein Mensch nur so gehen lassen und sich dabei auch noch in der Öffentlichkeit zeigen!
 Sie wollte zurück ins Haus gehen, um ihren eleganten, hellgrauen Kaschmir - Blazer gegen eine leichte, aber natürlich pingelig gebügelte Bluse zu tauschen, blieb aber noch mal stehen, um das einzige leicht angewelkte Blatt ihres Oleanders zu entfernen. Ihr Blick fuhr ein zweites Mal prüfend über ihre große Terrasse. Kein Staubkörnchen lag darauf, keine Erdspuren und nicht ein vertrocknetes Blatt, einfach nichts, alles war perfekt.
 Er passt einfach nicht hier hin, dachte sie angesäuert und warf einen verstohlenen Blick zum Nachbargarten.
 Vor ca vier Wochen musste er in das nebenan liegende, leer stehende Haus eingezogen sein. Der jungen Frau war schleierhaft, wie man in diesem Gebäude wohnen konnte. Es sah schäbig und heruntergekommen aus. Der Vorbesitzer war vor Jahren verstorben und sehr lange hatte es gedauert, bis Erben gefunden waren, die nun das Haus wohl verkauft hatten, ohne jemals Ordnung im Inneren und im Garten zu schaffen.
 In diesen Wochen hatte sie ihn immer mal wieder sehen können, immer in dem gleichen Aufzug, nein, ab und zu trug er auch eine Jogginghose, schleppte Möbel und Hausrat in einen Container, werkelte hörbar bei weit geöffneten Türen und schauriger Schlagermusik, ja, er sang oder pfiff sogar mit.
 Dann kamen lärmende Menschen mit Farbeimern und Pinseln, die auch in ähnlichen Jogging - Outfits von Zeit zu Zeit den heruntergekommenen Garten, in den er zwei Bänke und einen langen Brettertisch gestellt hatte, für Kaffee- oder Bierpausen nutzten. Genaues wusste sie natürlich nicht, denn sie flüchtete dann immer sofort in ihr Haus, um nur nicht auf die fröhlich über die Hecke fliegenden Rufe antworten zu müssen, konnte also nur anhand der Geräuschkulisse erahnen, was passierte. Wahrscheinlich war er nur ein einfacher Arbeiter und konnte sich nicht viel leisten, hatte aber diese sogenannten Kumpel, die für Bier und Mettbrot gerne ihre Freizeit mit ihm teilten, diesmal eben beim Streichen?

Sie mochte solche Menschen nicht, die irgendwann an einem Punkt stehen geblieben waren und es nicht für nötig hielten, weiterhin Leistung zu zeigen. Als Abteilungsleiterin einer Modefirma hatte sie oft solche Mitarbeiter unter sich und die blieben nicht lange im Unternehmen. Da war sie knallhart. Zeigte jemand nicht genug Leistung, war er für das Geschäft nicht kompatibel und konnte wieder seine Sachen packen.
Sie ging ins Haus und schritt elegant den langen Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer. Das gesamte Haus, ihr Anteil nach der Scheidung, hätte auch einer Wohnzeitschrift entspringen können. Nichts wirkte fehl am Platz, alles strahlte Sauberkeit und absolute Kühle aus.
 Sie zog sich schnell um und wollte es sich gerade auf ihrer Couch im Wohnzimmer bequem machen, um noch ein paar Unterlagen aus der Firma durchzugehen, als sie plötzlich sah, dass das Lämpchen ihres Anrufbeantworters stetig blinkte. Wer konnte da versucht haben, sie zu erreichen? Zu Hause rief doch so gut wie nie einer bei ihr an. Freunde hatte sie nicht und der Kontakt zu ihren Eltern bestand kaum noch. Sie schämte sich für ihre Eltern, lebten sie doch sehr einfach und spartanisch in einem kleinen Ort und machten sich nichts aus modischen Dingen, Kultur und Ansehen. Fast bäuerlich hätte man deren Leben bezeichnen können, denn sie verbrachten die meisten Stunden des Tages in ihrem Garten.
 Ihr selbst war schon früh klar gewesen, dass sie so wie ihre Eltern niemals leben wollte. Sie strebte nach Erfolg, Anerkennung und wollte sich einen Namen in der Geschäftswelt machen, nutzte dabei aber gerne die Ersparnisse der Eltern, die diese ihr für Fortbildungen zur Verfügung stellten.
 Sie ging zum Anrufbeantworter und drückte auf die Taste, die das Band abspulte. “Guten Tag Frau Klingenfeld, mein Name ist Konrad Rademann. Sie haben sich vor einiger Zeit in unserem Haus als Marketing Managerin beworben und wir möchten sie gerne zu einem Vorstellungsgespräch morgen um 10 Uhr einladen. Wenn sie diesen Termin nicht wahrnehmen können oder möchten, melden sie sich bitte noch heute unter der Nummer….”
 Katharina konnte es kaum glauben! Sie hatte es tatsächlich geschafft! Fast geschafft. Die größte Modefirma der Region lud sie zum Vorstellungsgespräch ein! Bald war sie da, wo sie immer hin wollte. Natürlich würde sie der Einladung folgen, da gab es gar keine Zweifel.
 Ein triumphierendes Lächeln, das aber wenig Freude ausdrückte, lag auf ihrem Gesicht, als sie nochmals zu ihrem Kleiderschrank ging und überlegte, welches ihrer edlen Kostüme am ehesten dem Zweck entsprach.
Bereits um 9.45 Uhr des nächsten Tages saß sie in der Besucherecke ihres Wunscharbeitgebers und wartete nervös darauf, dass dieser sie endlich hereinbitten würde und sie ihren Arbeitsvertrag unterschreiben konnte. Sie zweifelte keineswegs daran, dass sie die Stelle antreten würde. In ihren Augen war sie sehr gut, perfekt, einfach die Beste. Seit Jahren arbeitete sie auf diesen Moment hin, hatte ihr Privatleben vollkommen vergessen und sich mit den bedeutendsten Geschäftsleuten der Modewelt in der Umgebung getroffen, um Beziehungen zu pflegen, die ihr eines Tages nützlich sein könnten.
 Die Tür des Besprechungsraumes ging auf und die zauberte schon mal ein gewinnendes Lächeln auf ihren Lippen. Sie sah, dass zwei Herren aus dem Zimmer traten und eine dritte Person, eine Frau, verabschiedeten. Wahrscheinlich eine Mitbewerberin, schoss es ihr durch den Kopf und ein ärgerliches Gefühl trat in ihr auf, schließlich gehörte ihr der Job.
 Als die beiden Männer die Frau endlich zum Ausgang geführt hatten, kamen sie auf die sich nun von ihrem Platz Erhebende zu.
 “Hallo Frau Klingenfeld, ich bin Herr Rademann, der Geschäftsführer!” Ein gut aussehender Mann im schicken Anzug hielt ihr zur Begrüßung die Hand hin, zwinkerte leicht  und lächelte verschmitzt. Doch sie brachte keinen Ton heraus. Blässe zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf Stirn und Oberlippe; sie fühlte sich wie gelähmt.
Vor ihr stand der neue Nachbar.


FvB 1998



#Drabble Alte #Freundin




Du hattest dich ohne Anmeldung bei mir einquartiert
und ich hatte nichts dagegen unternommen. 
Ich dachte,als du plötzlich verschwunden warst, 
es sei dir etwas passiert.
So völlig ahnungslos zu sein, was los war, 
hat mir manchen Gedanken beschert.
Eigentlich hatten wir doch den Sommer so gelebt, 
wie es uns beiden gefiel.
Ich habe dich meistens in Ruhe deine Tage bestimmen lassen,
selbst wenn mir manche deiner Aktivitäten nicht recht, 
ja fast zuwider waren.
Du bist mir nicht großartig auf den Wecker gefallen, 
du warst im Allgemeinen sehr genügsam.
Seltsam, nun schaue ich doch nach dir aus.
Alte dicke Spinne.



floravonbistram 1989








#Drabble #Freund



Ich bin ein Freund
(Drabble)

Langsam kommt er auf mich zu. Ich kann ihn nicht erkennen, sein Strahlenschwert ist direkt auf mich gerichtet. Ich verharre, gehe nicht weiter.
Ich bleibe ganz ruhig, mein Atem fließt gleichmäßig und auch mein Puls ist nicht beschleunigt. Nein, er wirkt eigentlich nicht bedrohlich. Ihn umgibt etwas Fließenden, Wehendes, aber auch Vergehendes. 
Ich hebe die Arme und rufe schon in Gedanken:
„Ich bin ein Freund!“
Ein röhrendes Geräusch ertönt jetzt aus seiner Richtung, das Strahlenschwert wendet sich von mir ab.
Mein Phantasieerleben ist zu Ende, denn der im Nebel schimmernde Lichtkegel des Autos dreht ab und verliert sich im Davonfahren.


floravonbistram


#Ein Kind




Augen, riesengroß, schwarz und so erschreckend leer. In dem kleinen Puppengesicht ist keine Bewegung, das Kind, ein Mädchen, steht wie erstarrt auf dem Platz des Trümmerhaufens, wie angewurzelt, festgenagelt, unbeweglich. Staub, kleine Steinchen, Kalk und Sand liegen um sie herum, auf ihr und bewegen sich immer noch in der Luft, malen beängstigend düstere, trübe Farben auf alles, was eben noch bunt, lebendig und fröhlich war.
Nicht einmal Unbegreifen spiegelt sich, kein ängstliches Weinen mischt sich in die Verzweiflungsschreie, die dumpf, fast wie in Watte gepackt, durch die Luft  wehen, immer noch durchbrochen von dem Getöse der zusammenbrechenden Häuser, dem Nachrutschen von Wänden.
Das eben Geschehene ist erschreckend sichtbar in dem Verharren in der gleichen Pose: die Arme leicht erhoben, die winzigen Hände nach oben geöffnet, der kleine Mund, sonst sicher wie eine reife Kirsche, jetzt fahl, wie auch die drei Toten  um sie herum - wohl die Mutter und etwas ältere Geschwister - gebannt im Schockzustand.
Wieviel Zeit so vergeht? Wer kann es sagen? Keiner stoppt die Uhr. Die Überlebenden suchen, rufen, weinen.

Bewegung in Richtung des kleinen Mädchens, das in seinem zerrissenen Kleid  das Chaos nicht wahrnimmt. Ein Mann bahnt sich den Weg durch Trümmer, Verletzte und Tote. Er erkennt den Verlust, zusammenbrechend die winzige Gestalt umschließend und sein Schmerz zerreißt die Luft.

"Miyuki, Miyuki!"






#Tsunami 26. Dezember 2004

Die Jahrtausend-Katastrophe - der Tsunami riss rund 230.000 Menschen in den Tod.
Der zweite Weihnachtsfeiertag vor fünf Jahren wurde für viele Menschen zur Katastrophe. Der Tsunami im Indischen Ozean Küste verschlang allein an Thailands Küste 8000 Einheimische und Urlauber.

Eine gigantische Wasserwand erhebt sich am zweiten Weihnachtstag 2004 aus dem Indischen Ozean. Bis zu sechs Tsunamis, viele Meter hoch, schlagen an Land. Die Wellen vernichten Häuser, Dörfer, Städte. Rund 230.000 Menschen in vierzehn Ländern verlieren in den Fluten ihr Leben, in Indonesien, Thailand, Sri Lanka und Indien werden ganze Landstriche verwüstet. Sogar im mehr als 6400 Kilometer entfernten Ostafrika werden rund 200 Menschen vom Wasser getötet.


#Tsunami11. März 2011

 Eine Naturkatastrophe in #Japan griff mit ungeheurer Gewalt in das Leben vieler Menschen ein. Es war ein ganz normaler Freitagnachmittag, als um 14.46 Uhr ein gewaltiges Erdbeben mit der Stärke 9,0 die Nordostküste Japans erschütterte. Das Zentrum des Bebens lag 130 Kilometer östlich der Stadt #Sendai im Pazifik. Die Erdstöße waren bis auf das japanische Festland sehr stark zu spüren.
Das #Erdbeben löste einen sogenannten #Tsunami, eine riesige Flutwelle aus. Die bis zu 15 Metern hohe Riesenwelle riss alles mit sich und richtete große Zerstörung an: Hunderttausende Häuser stürzten ein und rund eine halbe Million Menschen verlor ihr Zuhause. Fast 20 000 Menschen sind dabei nach Schätzungen gestorben.

FvBistram 2005 und 2011


Irreale Tage




 Ich möchte mich  in mich verkriechen und die laute, hektische Welt ausschließen. Unerbittlich schleudert mich der schrill schreiende Wecker aus dem Bett und die eiskalten Füße fassen kaum Tritt. Das Zimmer dreht sich, flieht vor mir...oder ich in und mit ihm... und schleudert mich ins Bad. Blind zeichnet der Spiegel dampfende Konturen, die nach mir zu greifen scheinen. Ich wehre ab, reiße keuchend das Fenster auf. Luft, die erstarren lässt und doch etwas Antrieb gibt.
Anziehen, frühstücken..der Kühlschrank reißt sein zahnloses, leeres Maul auf und will mich einsaugen, um Fülle zu spüren.
Ich muss etwas einkaufen, sie wollen mich heute besuchen...die, die ich nicht sehen will.

Der Weg zum Geschäft erscheint mir unendlich lang. Lagen da schon immer die Pflastersteine so unangepasst, ließen ihre Kanten mich schon häufiger stolpern? Ich fühle tief in mir die hämischen Blicke derer, an denen ich versuche, unsichtbar vorbei zu huschen. Gelächter oder ist es nur das Klappern anderer Schuhe? Ich weiß es nicht.
Stakkato der Sonne, denn die rasenden Wolken verhüllen, lassen frei, verhüllen, lassen frei... geblendete Augen zusammengekniffen,  Herzschlag dröhnt in den Ohren.
Stimmengewirr, kreischend, sich überschlagend, mir fällt mein Kleingeld prasselnd auf die metallene Umkleidung des Fließbands und verschwindet unter und neben riesigen Füßen, die bedrohlich näher kommen.
Ich flüchte, noch das dumpfe Dröhnen der ineinander knallenden Einkaufswagen zwischen meinen Schultern spürend.
Auspuffgase wollen mich ersticken, Motoren heulen meinen Totengesang und doch...
ich erreiche meine Wohnung, schließe gehetzt die Tür, bevor ich an der Wand runterrutsche und mich weinend umschlinge.

Flora von Bistram 1972
Aus meiner Sammlung aus Gesprächen

„Begegnung mit Menschen am Rande“

#Eisenhut und #Nackenbraten



„Robert, das Essen ist fertig. Kommst du?“
Das Schemen hinter der Zeitung brummelt:
Sie hört, wie er rülpst und sich kratzt. Sie beginnt zu essen. Die Zeitung raschelt.
„Willst du auch hinterher einen Kaffee?“

"Nee, gib mir noch'n Bier."
"Aber es ist Mittag und du hast schon drei Bier getrunken. Denk doch an dein Herz."
Raschel, rülps, raschel, kratz…
Sie räumt ihr Geschirr in die Spülmaschine.
Ihr Kaffee dampft. Sie nimmt ihn mit auf die Terrasse, schließt die Augen und genießt die Spät-Sommergeräusche.
Da, die Störung, erwartet, gewohnt, gehasst. Knarren des Sessels, Klatschen der Zeitung auf dem Tisch und ein Brüller:
„Wieso kannst du nie mit dem Essen warten. Man wird doch noch eben den Artikel zu Ende lesen dürfen!“
Sie steht auf, holt ihm das Essen aus der Küche, wo sie es im Backofen warm gehalten hatte.
„Nackenbraten mit viel Zwiebeln und Klöße, magst du doch so gerne.“
„Meine Medizin!“
Auch die stellt sie ihm hin. Herz- und Blutdruckmedikamente nahm er schon lange und leider wirkten sie noch immer.


Wie oft hat sie geweint und gelitten unter diesem Monster, der auch schon mal zuschlug, wenn er zu viel Schnaps getrunken hatte. Und er trank zu gerne. Der Arzt hatte ihn schon mehrfach gewarnt, dass es böse enden könnte im Zusammenwirken mit den Medikamenten.


Doch heute weint sie nicht, nein, sie lächelt, geht durch den Garten, durch die hintere kleine Pforte in den Wald und verfüttert die gesammelten Brotkrumen an die zutraulichen  Eichhörnchen und Vögel.
Sie dehnt den Spaziergang aus. Sie fühlt sich gut und leicht.
Heute ist ihr Tag. Der 35. Hochzeitstag. Er soll die Wende bringen.
Er hat sich ja schon lange nicht mehr daran erinnert, ebenso wenig an die Geburtstage. Heute ist er  für 16 Uhr mit seinem Saufkumpan verabredet, sie mit der benachbarten Freundin.
Aus ihrer Rocktasche holt sie jetzt ein paar unscheinbare Blätter, die sie sorgsam im Waldboden einarbeitet, ebenso einen Mörser, einen Stößel...Erde und Laub wieder drüber.
Das Lächeln verstärkt sich. Einige kleine Blätter vom Eisenhut hat sie gemörsert und in seinen Magenbitter gemixt, den er immer nach einem reichhaltigen Essen trinkt. Er wird es nicht schmecken.
Nach zehn Minuten erreicht sie das Anwesen der Nachbarn. Ihre Freundin Marie ist im Garten.
Sie trinken selbstgemachten Holundersekt, stoßen auf den Hochzeitstag an, unterhalten sich. Es gibt Kaffee und Kuchen, noch einmal Holundersekt... bis das Telefon klingelt.
Sie sieht auf die Uhr und lächelt wieder. 

Der Kumpel hat ihn gefunden, es war zu spät.

Der Totenschein bescheinigt Herztod.
War ja zu erwarten, sagen die Dörfler.

Ich hab ihn gewarnt, sagt der Arzt.

FloravonBistram

#Hilfe




Wie lange lief ich schon durch den Regen, mit dem sich meine Tränen mischten? Ich hatte kein Zeitgefühl mehr und auch kein Empfinden. Leere breitete sich in mir aus. Ich war einfach weggerannt, zerfressen von dem Kummer und hatte die, die mir helfen wollten, einfach stehen lassen.

 Ich sah plötzlich die Frau, die vor mir ging, genauer. Ging sie eben nicht noch etwas gerader? Und lief sie nun auch langsamer?  Ihre Schultern zuckten von Zeit zu Zeit und nach jedem Zucken wirkte sie gebeugter und etwas verkrampfter. Hatte sie nicht eben noch wehendes Haar gehabt? Ich schüttelte den Kopf über mein Unvermögen, mir ein genaues Bild dieser Frau zu machen. Sie kam mir so anders vor, als vorhin…vorhin? Wann sah ich sie zuerst? Ich wusste es nicht einzuordnen. Doch ich war ja auch zu sehr mit meinem Schmerz beschäftigt, der jetzt, beim daran denken wieder massiv auf mich einstürmte.
Ein Schluchzen löste sich und mit meinem Ärmel wischte ich über meine Augen, zuckte aber zusammen, denn ich meinte ein Echo zu hören. Grau und zusammen gesunken schlich nun die Gestalt vor mir her. Ich beschleunigte meine Schritte, doch seltsamerweise blieb die Entfernung gleich. Um mich herum waberte plötzlich ein unerklärlicher Nebel, der nach mir zu greifen schien. Meine Füße wurden schwerer, doch stemmte ich mich gegen den stark aufkommenden Wind.
Der Schatten vor mir wirkte noch gebeugter und ganz deutlich hörte ich lautes Weinen.
„Bitte warten sie, lassen sie sich helfen!“ 
Meine Stimme wirkte wie ein Hauch und wurde nicht weiter getragen. Es war, als fiele sie mir vor die Füße.Erneut versuchte ich es:
 “ Lassen sie uns gemeinsam gehen, das ist sicherer!“ 
Da drehte sie sich um und ganz deutlich hörte ich die Stimme:
 “Du bist die, die Hilfe braucht. Nimm die Hand, die dir gereicht wird und du bekommst deine alte Stärke wieder.“
Und sie kam näher und näher und schaute mich an.
Ich sah in ihr freundliches Gesicht und erkannte mich.
In dem Moment erwachte ich.

Flora von Bistram 1968

#Katastrophen



Diese Geschichte ist ein Drabble

Drabbels sind kurze Geschichten, die genau 100 Worte (ohne Überschrift) und einen überraschenden Ausgang aufweisen. Die Drabblemanie schwappte in den 80er Jahren von England herüber und so versuchten wir uns auch darin. Viel Spaß
Autor: flovonbistram

 

Katastrophen



Staaten zerbrechen, das ist keine Unbekannte mehr für uns.
Banken haben sich ruiniert, das  kennen wir schon lange.
Bereichern werden sich immer die Reichen an den Armen
und deren Zahl wächst beständig.
Menschen, die nichts zu sagen haben, regieren die Schweiger.
Weltenmeere kippen, lassen kein Leben mehr zu.
Vulkane, Erdbeben, Tsunamis nimmst du zur Kenntnis.
Es ist bereits Alltag, dass Mord und Gewalt toleriert werden.
Nicht das Opfer hat die Lobby, sondern der Täter, denn
 bei uns gilt: Personenschutz vor Opferschutz.
Aber nein, das ist nicht das Allerschlimmste.

Es gibt Schlimmeres:
die allergrößte Katastrophe für Dich
ist Dein abgebrochener Fingernagel

Das ganz normale Leben





Was für eine Drängelei. Jochen hielt in beiden Händen bereits mehrere Einkaufstüten, die Ingrid ihm bereitwillig überlassen hatte, wie sie es nannte -  er hätte es aufzwingen genannt.
„Sieh doch nur!“ flötete die ihm noch Angetraute, zeigte wieder in ein Schaufenster, an dem er am liebsten sofort vorbeigehetzt wäre. Er nickte und dachte nur an sein Auto, ach nein, das Leihauto auf dem Parkplatz ohne Schatten, in dieser Stadt, die ihm heute auch völlig schattenlos vorkam, denn die Sonne brannte, sobald man ins Freie trat, die Kopfhaut glühte, die Ohrläppchen waren sicher schon verschmort, denn er hatte seine Kappe im Wagen liegen gelassen.
Wessen Idee war das eigentlich gewesen, das vollklimatisierte Haus in Los Monteros, dicht am Meer zu verlassen, um eine Shoppingtour durch Marbella zu machen? Seine doch bestimmt nicht und was hatte ihn geritten, dem auch noch zuzustimmen?
Schon die Urlaubsplanung war der größte Blödsinn gewesen, denn die Ehe bestand nur noch auf dem Papier. Aber nein, man wollte ja unbedingt in Freundschaft auseinender gehen, hm, war auch nicht sein Wunsch gewesen, doch wie immer hatte er nachgegeben.
Dieses wie immer wühlte in ihm, ja, wie immer latschte er hinter der Kaufsüchtigen wie ein Lakei her, schleppte ihre Klamotten, schwitzte sich einen Wolf und musste sich auch noch immer wieder in die Ohren kreischen lassen:“Ach, sieh doch nur…!“
So hatte es auch begonnen, denn dieser -  nun bis zum Erbrechen oft gehörte - Satz  war der Beginn seiner ganzen Lebensniederlage.
Bei diesem Satz, bekam er, als er ihn das erste Mal hörte, eine fette Ohrfeige, sicher nicht beabsichtigt, denn Ingrid holte mit weiter Geste aus, um ihrer Begleiterin einen See zu zeigen, der verträumt zwischen Weiden und Gebüsch in der untergehenden Sonne funkelte und ihre Rückhand traf ihn, der im gleichen Moment mit seinem Hund aus dem Gebüsch, hinter dem sich ein schmaler Trampelpfad verbarg, trat.
Von der Wucht völlig benommen spielte sich nun ein völlig neues Leben für ihn ab, denn ehe er sich wieder erholt hatte, war er auch schon mit der Schlaghand, nein, natürlich mit der daran hängenden Frau verheiratet.
So kam es ihm auf jeden Fall jetzt in der Rückschau vor. Wie alles wirklich verlief, hm, konnte er sich wirklich nicht mehr an schöne Zeiten erinnern? Er hatte viel gearbeitet, immer ein gutes Händchen für Geschäfte gehabt, Haus, Autos, Ferienhaus, alles kam mit den Jahren, schneller, als gedacht, nur ein Kind, das er sich so sehr wünschte, blieb ihnen versagt, nein, falsch, nicht ihnen, sondern ihm, denn sie wollte keins.
„Mausebärchen, wir haben doch noch Zeit, lass uns erst mal genießen, was wir haben“, zwitscherte sie die ersten Jahr, dann: „ Haben wir es denn nicht schön? Ich glaube, ich könnte gar nicht damit umgehen, denn Kinder sind so laut und immer schmutzig….“.

Auf jeden Fall wurde ihm bewusst, dass er sich immer wieder hatte lenken und manipulieren lassen, sich immer nur halbherzig aufgelehnt hatte, um dann eines Tage zu erfahren:
„Ach Schatz, wir sollten uns scheiden lassen, bei uns ist die Luft raus, aber wir wickeln alles in aller Freundschaft ab, lief doch immer alles gut…!“ Bla, bla, bla!
Er atmete durch, der Schweiß lief ihm in die Augen, mit dem Handrücken wollte er ihn abwischen, dabei riss der Henkel der Edelpapiertüte mit dem Superlogo und es rutschten gleich zwei Bikinis und ein Pareo heraus und schon lagen sie hübsch anzusehen in dem Tagesstaub des Gehsteigs.
„Jooooochen!“
Ich bekomme gleich einen Tinnitus, wenn sie mir noch mal in das Ohr schreit, schoss es ihm durch den Kopf.
„Kannst du denn nicht aufpassen? Nun heb sie schon auf oder soll das da liegen bleiben, ich gehe inzwischen hier rein, die haben ja soooo schöne Kleider!“ Sie sprach es und entschwand.
Da stand er und lachte laut los. ´Ich Idiot, ich alter Trottel, ich bin doch selber schuld. Wieso lasse ich das eigentlich schon 12 Jahre mit mir machen? Das ist jetzt vorbei, aus und vorbei`.
Immer noch lachend ging er durch das kleine Portal des bekannten Ladens, rief kurz, aber sehr laut: „Ingrid!“ und schüttelte, als sie sich umdrehte, den Inhalt aller Tüten auf den Boden, warf den Auto- und Hausschlüssel sowie das Mäppchen mit den Papieren hinterher, rief noch ein fröhliches: “Schönen Urlaub noch“ und verließ pfeifend den Tempel mit den zu Marmor erstarrten Figuren, die ihm form- und gesichtslos in ganz kurzer Erinnerung blieben, denn schon an der nächsten Straßenecke stand ein Taxi, mit dem er sich in ein ganz normales Strandhotel fahren ließ, um dort, fern ab von jedem Schicki - Micki einen Urlaub zu verleben, Urlaub, wie er ihn schon ewig nicht mehr hatte, voller Entspannung, schäkern am Strand, Sangria und Paella und dem Bewusstsein, zu leben - das ganz normale Leben zu leben.

floravonbistram